Stellungnahme des VdPP zum Positionspapier der ABDA „Selbstmedikation als integraler Bestandteil einer umfassenden Arzneimittelversorgung“ vom Mai 2020
Hamburg, 29. Juni 2020
Der VdPP (Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten) begrüßt, dass die ABDA eine Position zur Selbstmedikation vorgelegt hat und sich darin auch für den Erhalt der Apothekenpflicht bei Arzneimitteln der Selbstmedikation stark macht.
Der VdPP kritisiert aber, dass es die Standesvertretung seit Jahrzehnten versäumt, einen überzeugenden Weg einzuschlagen, um aus dem Verkaufsraum Apotheke eine am Verbraucherschutz orientierte Einrichtung des Gesundheitswesens zu machen.
Am 12. Juni 2020 veröffentlichte die ABDA das Positionspapier „Selbstmedikation als integraler Bestandteil einer umfassenden Arzneimittelversorgung“. Die ABDA begründet die Sonderstellung der Apotheken beim Verkauf apothekenpflichtiger Arzneimittel mit der Beratungsbedürftigkeit dieser „Waren besonderer Art“.
Apothekenpflichtige Arzneimittel der Selbstmedikation und ärztlich verordnete verschreibungspflichtige Arzneimittel seien „integraler Bestandteil“ der Arzneimittelversorgung und bedürften aus Gründen des Verbraucherschutzes der gemeinsamen Beratung. Die Ausweitung der Selbstmedikation sei eine gezielte Entlastung des Gesundheitswesens und der Krankenversicherungen gewesen.
Die ABDA reagiert damit zum jetzigen Zeitpunkt auf die Bestrebungen auf nationaler und europäischer Ebene, den Selbstmedikationsmarkt weiter zu liberalisieren. Verbraucher haben in immer mehr Ländern der EU die Möglichkeit, Arzneimittel in Drogerien, Supermärkten o.a. zu kaufen. Die Bedeutung der Apotheken als Gesundheitseinrichtungen wird geschwächt. Profite gehen verloren.
Das ABDA-Papier soll offensichtlich auch als Argumentationshilfe dienen für in Brüssel anstehende Gespräche über das Rx-Versandhandelsverbot nach Koalitionsvereinbarung und über das Rx-Boni-Verbot, welches von Gesundheitsminister Spahn befürwortet und von der ABDA gefordert wird, um die Präsenzapotheken in der Bundesrepublik gegen EU-Wettbewerbsrecht abzuschotten.
Der VdPP begrüßt das Positionspapier der ABDA in seiner Grundausrichtung: Arzneimittel sind keine normalen Gebrauchsgüter, sondern risikobehaftete Produkte. Vor allem ältere, multimorbide Menschen mit vielen ärztlich verordneten Arzneimitteln sind häufig durch Multimedikation/Polypharmazie gefährdet. Für diese besonders vulnerablen Menschen darf die Risikolast nicht durch Selbstmedikation weiter erhöht werden; daher müssen Information und Beratung in Apotheken aus Verbraucherschutzgründen besonderen Anforderungen genügen und unmittelbar vor Ort zur Verfügung stehen.
Die Grundfrage ist, ob dies in den Apotheken, die ja im Bereich der Selbstmedikation vom Arzneimittelverkauf leben, umsetzbar ist.
Wird Information und Beratung als heilberuflicher Auftrag flächendeckend umgesetzt?
Die ABDA über Selbstmedikation: „In aller Regel unterstützt der Apotheker diese mit heilberuflicher Beratung“. Sicherlich wird in vielen Apotheken der heilberufliche Auftrag ernst genommen. Aber reicht die Behauptung „In aller Regel“´? Die Aussage ist eher ein frommer Wunsch, denn untersucht hat die ABDA diese Situation nicht. Noch nicht einmal die Ergebnisse von Pseudo-Customer-Untersuchungen zur Beratungspraxis in Apotheken werden veröffentlicht (und werden somit nicht zum Aufdecken von Defiziten und zum Formulieren anspruchsvollerer Ziele genutzt!). Die ABDA ist angreifbar, wenn sie ungünstige Ergebnisse anderer „Testkäufer“ negiert, in denen schlechte Beratungen offengelegt werden. Die ABDA ist auch nicht überzeugend, wenn sie angesichts von in Apotheken bevorzugt empfohlenen Präparaten (etwa Thomapyrin intensiv, WICK MediNait, Grippostad) keine Probleme ausmacht.
Ist Information und Beratung in Apotheken „evidenzbasiert“?
Die ABDA verweist auf die durch die Bundesapothekerkammer gesetzten Standards zur Qualitätssicherung in der Selbstmedikation. Gut.
Aber viele Fragen bleiben offen: Werden die Standards aktualisiert? Werden sie gelebt? Was bringen sie dem Apothekenpersonal? Wird evidenzbasierte Beratung in Apotheken durch diese Hilfen besser umgesetzt?
Wie ist im profitorientierten Unternehmen Apotheke evidenzbasierte Beratung überhaupt möglich? Der Grundkonflikt ist der Interessenkonflikt zwischen Ethik und Monetik. Wer an Arzneimitteln verdient, wird eher einen Nutzen ausmachen, als ein Risiko erkennen, wird eher empfehlen als abraten. Dabei geht es nicht um etwas Ehrenrühriges, sondern um ein normales menschliches Verhalten in Interessenkonflikten, das durch viele valide Studien wissenschaftlich belegt ist.
Daher sind zwei Herangehensweisen in der Apotheke gänzlich unverzichtbar: Erstens den Interessenkonflikt benennen statt verschweigen. Zweitens wissenschaftliche Erkenntnisse (evidenzbasierte Pharmazie!) systematisch verfügbar machen, sie auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse halten und sich daran orientieren und vom ersten Tag der Ausbildung an als pharmazeutischen Ethos zu pflegen. Dies war die Intention des Antrages zum Deutschen Apothekertag 2014 zur evidenzbasierten Beratung in der Selbstmedikation, an dem der VdPP mitgearbeitet hatte. Herausgekommen ist EVI-News, ein Newsletter, den der VdPP kritisch als ziemlich unzureichend kommentiert hat.[1]
Seit Jahren und Jahrzehnten benennt die ABDA die Grundkonflikte nicht.
Sind rezeptfreie Arzneimittel wirksam und sicher?
Viele Arzneimittel können als „Beweis“ ihrer Wirksamkeit nur auf ihre Tradition und auf Erfahrungswissen verweisen, wurden aber nicht zureichend auf Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität geprüft. Die (oft nur behauptete) „Wirkung“ eines Arzneimittels erlaubt keinerlei Rückschluss auf den indikationsbezogenen „therapeutischen Nutzen“, welcher wissenschaftlich zu belegen wäre. Dies differenziert die ABDA nicht.
Bei den sog. Switches betont die ABDA die besondere Bedeutung der Apothekenpflicht als Verbraucherschutznorm. Diese eigentlich verschreibungspflichtigen Arzneistoffe werden dem Selbstmedikationsmarkt laufend in meist niedrigerer Dosierung zur Verfügung gestellt und mit viel Werbung in den Markt gedrückt. Eine einzige kritische Bemerkung? Voltaren-Werbung zur besten Sendezeit? Aufsteller vor Apotheken mit Schnäppchenangeboten? Zugaben als Kaufanreize in Apothekenschaufenstern? Verbot der Laienwerbung!? Alles Fehlanzeige! Kein Ziel! Im Gegenteil: die ABDA hat in den 1980er Jahren die „Freidosenregelung“ gegen viele Bedenken aus Fachkreisen maßgeblich unterstützt. Wo bleibt die wissenschaftliche Begleitung solcher Markteinführungen, wenn die ABDA sich als Verbraucherschutzbarriere versteht? Gerade aus Apotheken heraus könnten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als maßgeblicher Pharmakovigilanzbehörde Risikohinweise geliefert und das heilberufliche Engagement gut unter Beweis gestellt werden. Die ABDA aber setzt auf den guten Glauben an die Umsetzung der Standards durch alle Apotheken.
Selbstmedikation entlastet?
Positiv wird hervorgehoben, nicht selten ersetze die Selbstmedikation den Arztbesuch oder ergänze die veranlasste Therapie. Was bedeutet dies? Die angeführten gesundheitsökonomischen Berechnungen berücksichtigen keine Schäden durch inadäquate Selbstmedikation. Gibt es sie nicht? Auch hier bleibt Versorgungsforschung ein Fremdwort. Zu welchem Nutzen bzw. Schaden für die Patienten kann denn der Verzicht auf den Arztbesuch und dafür Selbstmedikation möglicherweise führen?
Stimmt es, dass die Selbstmedikation einen erheblichen Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems leistet? Worauf bezieht sich die Behauptung? Immerhin werden private Geldbeutel mit 20 Mrd. Euro belastet. Für welchen Patienten-Benefit?
Gegen die Trivialisierung von Arzneimitteln
Der VdPP unterstützt das Anliegen der ABDA gegen die weitere (Neo)Liberalisierung des Arzneimittelmarktes, welche mit der „Trivialisierung“ der Arzneimittel einhergeht. Sie zeigt sich z. B. im Versand, in der Werbung und in der Degradierung von Arzneimitteln aus der Verschreibungspflicht oder Apothekenpflicht in den Mass Market oder in das Segment der Nahrungsergänzungsmittel.
Apotheken als wichtiger Teil der Daseinsvorsorge!
Auch der VdPP sieht in den Apotheken die zentrale Stelle, die als Einrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens für die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung zuständig ist. Die Apotheken sind als wichtiger Teil der Daseinsvorsorge dem Gemeinwohl verpflichtet. Der Apothekerberuf ist ein wissenschaftlich fundierter Beruf, von dem die Gesellschaft erwarten darf, dass die Leistungen hochqualifiziert erbracht werden.
Dem Positionspapier der ABDA fehlt die Überzeugungskraft, weil sie ihre Argumentation nicht oder nicht ausreichend an diesen realen Problemen schärft und in Abgrenzung von „Arzneimittelverkäufern“ (Versand, Internet) nicht wirklich auf wissenschaftliche Qualität der Beratung orientiert. Beratungsqualität wird behauptet, aber kaum unterstützt und schon gar nicht evaluiert.
Der Anspruch muss überzeugend gelebt und in berufspolitisches Handeln umgesetzt werden. Das wäre die wirksamste und glaubwürdigste Haltung, um überzeugend für den Erhalt und die Absicherung einer flächendeckenden Versorgung mit Präsenzapotheken zu werben.
Der VdPP sieht darin eine wichtige Herausforderung für die neu zu wählende ABDA-Spitze.
Der VdPP-Vorstand
TERMINE
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