Positionen des VdPP zur Arzneimittelversorgung sozial Benachteiligter
Ergebnis des Herbstseminars 2019
Notwendige Arzneimittel und gesundheitliche Versorgung für alle – solidarisch finanziert!
Hamburg, 18.11.2019 - In einem so reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland gibt es viele Menschen, die sich die dringend benötigten Arzneimittel nicht leisten können. 15 Mio. Menschen gelten als armutsgefährdet. Für sie sind Zuzahlungen zu Arzneimitteln oftmals eine zu hohe Hürde; die bestehenden Härtefallregelungen für Zuzahlungen sind bei weitem nicht ausreichend und für viele zu kompliziert. Außerdem leben 500.000 Menschen ohne Papiere in Deutschland, ohne jegliche Absicherung. Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel müssen komplett aus eigener Tasche finanziert werden. Auch hierfür fehlt diesen Menschen sehr oft das Geld.
Glücklicherweise wächst die Hilfsbereitschaft von Menschen, die ihre Augen vor der Not nicht verschließen und tatkräftig helfen wollen, auch in der Apothekerschaft. Sie engagieren sich in Organisationen wie Apotheker ohne Grenzen oder bei sog. Medikamententafeln – oder auch einzeln im täglichen Apothekenbetrieb. Ihr Einsatz ist hoch lobenswert und kann dennoch nicht die Lösung sein für das Gesundheitswesen in diesem reichen Land – in einem Gesundheitswesen, das im Prinzip dem Solidaritätsgedanken verpflichtet ist. Seit vielen Jahren werden die Folgen der neoliberalen Politik deutlich: Die Gesundheitspolitik wird durch Privatisierung und Kommerzialisierung bestimmt und immer mehr Geld geht an Finanzinvestoren und global agierende Konzerne verloren. Die Folgen dieser Politik sind Armut und Ausgrenzung.
Der Anspruch auf Gesundheit und die Versorgung im Krankheitsfall ist ein Menschenrecht. Die Bundesrepublik hat den UN-Sozialpakt, der dies festschreibt, unterschrieben und ratifiziert. Die Realität in der Bundesrepublik sieht allerdings für viele Menschen komplett anders aus. Entweder haben sie gar keinen Zugang zu einer Versorgung oder sie müssen zuvor große Hürden überwinden; zum Teil werden nur eingeschränkte Leistungen gewährt, oder Betroffene können die notwendigen Produkte oder Dienstleistungen nicht bezahlen.
DER VdPP FORDERT DAHER VON DEN POLITISCH VERANTWORTLICHEN |
Für gesetzlich Krankenversicherte:
- Die Zuzahlungen auf verordnete Arzneimittel müssen zurückgenommen werden.
Zuzahlungen haben keine Steuerungsfunktion. Sie belasten und bestrafen Erkrankte durch zusätzliche Ausgaben (welche Gesunde nicht belasten!): Zuzahlungen widersprechen dem Solidaritätsgedanken der Gesetzlichen Krankenversicherung. Zuzahlungen erschweren sozial Benachteiligten den Zugang zu Arzneimitteln und zwingen häufig zum Verzicht auf das benötigte Arzneimittel. Die angeblich „abfedernden“ Härtefallregelungen sind für Menschen mit wenigen finanziellen Mitteln überhaupt nicht ausreichend, sodass diesen Menschen der Zugang zur notwendigen Versorgung erschwert, ja teilweise sogar unmöglich wird.
- Eine solidarische Bürgerversicherung muss endlich umgesetzt werden. Die Zwei-Klassenmedizin muss endlich abgeschafft werden.
Weltweit ziemlich einmalig gibt es in Deutschland die zwei Systeme der Gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung (GKV bzw. PKV). Die Besserverdienenden aus der PKV können sich der solidarischen Finanzierung des Gesundheitswesens entziehen. Die meisten Kosten entstehen in der GKV, weil der Sozialstatus (Einkommen, Bildung, Beruf) in allen Gesellschaften in enger Verbindung zur Gesundheit steht. Die sozial schlechter Gestellten aus der GKV sind nicht nur öfter krank und leisten mehr Zuzahlungen, sie finanzieren auch die Versorgung der ganz Armen und Bedürftigen. Eine Bürgerversicherung würde u.a. eine solidarische Finanzierung bewirken, die Arbeitgeber paritätisch beteiligen und einen großen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit leisten.
- Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel müssen wieder in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden, soweit sie zur Behandlung von Erkrankungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind sowie das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§12 SGB V). Die Bestimmung in § 34 SGB V, nach der nur bei schwerwiegenden Erkrankungen nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nach Festlegung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse verordnungsfähig sind, muss dahingehend erweitert werden.
Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (oder auch Medizinprodukte) können
sinnvoll und die Therapie der ersten Wahl sein. Sie können auch im Sinne von
Public Health notwendig sein, wenn dadurch Infektionsgefahren reduziert werden
(z. B. Antimykotika oder antiparasitäre Mittel). Wenn Ärztinnen und Ärzte jedoch
im Einzelfall verschreibungspflichtige Arzneimittel als Ersatz verordnen, um ihren
Patienten finanzielle Probleme zu ersparen, ist dies nicht unbedingt eine rationale
Therapieentscheidung; sie kann mit höheren Risiken verbunden sein. Nicht
verschreibungspflichtige Arzneimittel müssen daher unabhängig von finanziellen
Erwägungen für die Versorgung über ärztliche Verordnung zur Verfügung stehen.
Für nicht Krankenversicherte und Menschen ohne Papiere:
- Die Versorgung von nicht Krankenversicherten oder Menschen ohne Papiere muss dem gleichen Versorgungsniveau entsprechen, wie die Versorgung regulär Versicherter.
Die Bundesrepublik hat sich mit Ratifizierung des UN Sozialpaktes schon 1973 dazu verpflichtet, allen Menschen, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik leben, eine ausreichende medizinische Versorgung zu sichern. Dies wird nicht umgesetzt. Menschen ohne Papiere müssen zudem befürchten, bei therapeutischer Behandlung im Regelsystem anderen Behörden gemeldet zu werden – mit der Gefahr einer Abschiebung. Nicht krankenversicherte Menschen und Menschen ohne Papiere erhalten allenfalls rudimentäre Versorgungsleistungen, wenn sie krank sind. Demgegenüber heißt es in Artikel 12 des UN-Sozialpaktes: “Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Maßnahmen (...) zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen“. Dies gilt auch für Menschen ohne Papiere!
- Ein staatlich finanziertes System der aufsuchenden Gesundheitsversorgung muss aufgebaut werden.
Menschen in Not, ohne Wohnung, ohne Versicherung oder ohne Papiere sind oftmals nicht in der Lage, die bestehenden gesundheitlichen Einrichtungen zu nutzen. Die Arbeit niedrigschwelliger und aufsuchender Hilfsorganisationen hat gezeigt, welch großer Bedarf an einer solchen Versorgung besteht. Diese Arbeit kann aber nicht ehrenamtlichem Engagement überlassen bleiben, das in manchen Regionen vorhanden sein mag, in anderen aber nicht. Aufgrund der Vorgaben des UN Sozialpaktes haben alle Menschen in der Bundesrepublik das Recht auf gesundheitliche Versorgung, nicht nur diejenigen, die zufällig dort leben, wo soziales Engagement die größten Härten abmildert.
DER VdPP APPELLIERT AN DIE APOTHEKERORGANISATIONEN |
- Die genannten Probleme sind auch als Herausforderung für die Apothekerschaft zu verstehen.
Apothekerinnen und Apotheker haben den gesetzlichen Auftrag, die Bevölkerung ordnungsgemäß mit Arzneimitteln zu versorgen. Dies gilt für die gesamte Bevölkerung. Die Apothekerinnen und Apotheker dürfen nicht wegschauen, wenn viele Menschen von dieser Versorgung ausgeschlossen werden!
- Unser Anspruch muss sein: In allen Apotheken müssen alle Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihren finanziellen Möglichkeiten, ihrem Aufenthaltsstatus oder ihrer Lebensumstände – mit Respekt beraten und versorgt werden. In vielen Apotheken wird dieser Grundsatz sicherlich mit viel Engagement gelebt. Aber die Hürde für rassistisches Gedankengut sinkt und einzelne Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik werden zunehmend diskriminiert. Daher ist es notwendiger denn je, dass sich die Apothekerorganisationen offen und sehr deutlich zu Antirassismus und Antidiskriminierung bekennen. Sie sollten zudem einfordern und unterstützen, dass in den Apotheken allen Menschen unter Achtung ihrer Würde begegnet wird, und dafür laufend Angebote machen (Artikel, Veranstaltungen, sprachliche Übersetzungshilfen, Veröffentlichung einschlägiger Praxiserfahrungen, Kooperationsmöglichkeiten in der Region…). Angesichts des guten Ansehens der Apothekerschaft in der Bevölkerung sieht der VdPP hier auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
- Die Berufsorganisationen müssen ihre Erfahrungen zur notwendigen Verbesserung der Versorgung in die gesellschaftliche und politische Debatte einbringen.
In Armut lebende Menschen versuchen in der Regel, ihre Armut zu verstecken. Sie wird dann nicht sichtbar. Finanzielle Schwierigkeiten von Patientinnen und Patienten werden in den Apotheken bei der Abgabe von Arzneimitteln (niedrigschwellige Angebote!) oft deutlich. Apotheken haben daher beste Voraussetzungen, Notlagen in der gesundheitlichen Versorgung wie ein Seismograph zu erkennen und in die regionalen Sozial- und Gesundheitsberichtserstattungen einzubringen.
Ein noch nicht veröffentlichtes Pilotprojekt aus dem Großraum Braunschweig hat gezeigt, dass Mitarbeiter*innen von Apotheken darüber gute Kenntnisse haben und bereitwillig Auskunft geben. Dieses Potential muss genutzt werden.
- Die Berufsorganisationen müssen aktiv einfordern, dass Menschen in Not heute und jetzt versorgt werden. Sie müssen humanitäre Hilfsprojekte unterstützen. Gleichzeitig müssen sie sich für eine staatliche Absicherung der Menschen in Not einsetzen.
Den notleidenden Menschen ohne Krankenversicherung, ohne ausreichende finanzielle Mittel, ohne Aufenthaltsgenehmigung muss unmittelbar geholfen werden – und nicht erst, wenn irgendwann die Bundesregierung, die Länder oder Kommunen eine gesundheitliche Versorgung absichern. Es darf nicht sein, dass Ehrenamtliche staatliche Verpflichtungen übernehmen. Die Tafelbewegung hat gezeigt: viel humanitäres Engagement ist in der Gesellschaft vorhanden; aber der Staat zieht sich aus der Versorgung der Ärmsten zurück, weil er sich einfach auf das humanitäre Engagement verlässt. Menschen in Not dürfen aber nicht auf Almosen in einzelnen Regionen angewiesen sein. Sie haben ein Recht auf staatlich abgesicherte gesundheitliche Versorgung (UN-Sozialpakt!). Viele Ansprechpartner stehen zur Verfügung: politische und gesellschaftliche, auch ehrenamtliche Organisationen, kommunale Stellen, etwa Öffentlicher Gesundheitsdienst. Die Unterstützung der Bedürftigen durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) ist geboten. Der ÖGD hat als staatliche Einrichtung den sozialkompensatorischen Auftrag in den Kommunen; er verfügt als untere staatliche Gliederung sowie als Ort der Daseinsvorsorge gute Kenntnisse zu den örtlichen Problemlagen. Die verantwortlichen Kommunen müssen auch durch ausreichende finanzielle Ausstattung dazu in die Lage versetzt werden.
Die Not vieler Menschen in der Bundesrepublik ist groß. Durch den demografischen Wandel ist zudem mit steigender Altersarmut zu rechnen.
Die Apothekerschaft ist gefordert!
Ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung für alle!
Das ist nicht nur ihre gesetzliche Pflicht.
Es ist auch ihre in den Berufsordnungen formulierte und in der Gesellschaft von einem angesehenen Berufsstand erwartete Aufgabe.
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TERMINE
07. Oktober, online
18. November, online
VdPP-Vorstandssitzung
04. November, online
25. November, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
02. Dezember, online
02. Dezember, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
09. Dezember, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
16. Dezember, online