Apotheken und Gesundheitswissenschaften / Public Health:
Chance und Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit
Sommer 2008
von Udo Puteanus
Warum sollten sich die Gesundheitswissenschaften / Public Health dem Forschungsfeld Apotheke widmen? Warum ist es notwendig, wenn sich Apotheken mehr bei den Themen Gesundheitsförderung und Öffentliche Gesundheit engagieren? Auf der Dresdener Tagung des VDPP am 21. Juni 2008 stand dieses Thema im Mittelpunkt des öffentlichen Teils der Mitgliederversammlung.
Die Zeit ist reif, dass sich die Gesundheitswissenschaften verstärkt dem Themenfeld Apotheke widmen. Denn seit nun zwanzig Jahren beforschen die multidisziplinär arbeitenden Gesundheitswissenschaften die unterschiedlichsten Bereiche des Gesundheitswesens. Apotheken waren bislang kaum Forschungsgegenstand.
Gesundheitswissenschaften haben eine lange aber durch die deutsche Geschichte gebrochene Tradition
Die Gesundheitswissenschaften blicken auf eine lange Tradition zurück – auch und gerade auf dem Boden des ehemaligen deutschen Reiches. Vor der Nazi-Diktatur hatten vor allem zur Zeit der Weimarer Republik sozialmedizinisch orientierte Ärzte vorbildliche Institutionen und Konzepte zur Prävention und Beratung auf der Ebene der gesetzlichen Krankenversicherung und im Öffentlichen Gesundheitsdienst geschaffen.[1] Die Nationalsozialisten zerstörten diesen Ansatz und vereinheitlichen den Öffentlichen Gesundheitsdienst unter rassenhygienischen Vorzeichen. Die führenden sozialmedizinischen Köpfe mussten entweder emigrieren, wurden verfolgt oder sogar ermordet. Ein Anschluss an die Weimarer Entwicklung gelang in Westdeutschland nach dem Krieg nicht. Der Öffentliche Gesundheitsdienst war aufgrund der Verstrickungen mit dem Vernichtungsprogramm der Nazis diskreditiert. Vor dem Hintergrund der Ost-West-Auseinandersetzung setzte die Gesundheitspolitik – vor allem auf Druck ärztlicher und industrieller Lobbyisten – in erster Linie auf den individualmedizinischen Ansatz. Führende Vertreter der Sozialmedizin hatten, sofern sie Deutschland rechtzeitig verlassen konnten, in anderen Staaten ihre wissenschaftliche Arbeit weiterführen können.
Es dauerte bis in die achtziger Jahre, bis der Problemstau ausreichend Druck erzeugt hatte, die Gesundheitswissenschaften wieder zu fördern. Veränderungen des Krankheitenpanoramas, Unzufriedenheit mit paternalistischen Strukturen im Gesundheitswesen, Finanzierungsprobleme der GKV und offensichtliche Rückständigkeit westdeutscher Gesundheitswissenschaften im internationalen Vergleich waren wesentliche Beweggründe, die die Bundes- und Landesgesundheits- und ‑forschungspolitiker dazu veranlassten, die Gesundheitswissenschaften durch finanzielle Hilfen ansatzweise auf internationales Niveau zu hieven. [2]
Vor allem der Bereich der Gesundheitsförderung, der durch intensive Aktivitäten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit diskutiert wurde und zu einer neuen Ausrichtung der Gesundheitsdienste
aufforderte, entfaltete so viel Dynamik, dass die Rückständigkeit des westdeutschen Gesundheitswesens offensichtlich wurde. [3]
Nach der Aufbauphase in den achtziger und neunziger Jahren spannt sich inzwischen ein ansehnliches Netz gesundheitswissenschaftlicher Forschungs- und Lehrinstitutionen über die Bundesländer. [4]
Gesundheitswissenschaften zeigen Interesse an Apotheken
Bei den Gesundheitswissenschaften besteht durchaus Interesse, über neue Themenfelder zu forschen, so zumindest ein Gesundheitswissenschaftler auf einer Veranstaltung des Landesinstituts für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd) am 20. Juni 2007 in Münster. Dies war die Auftaktveranstaltung einer Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, beide Bereiche näher zusammenzuführen.
Es ist für die Gesundheitswissenschaften / Public Health notwendig, sich mehr als bisher mit dem Thema Apotheken auseinander zu setzen. Denn es wird immer deutlicher, dass in einem sich verstärkt der Ökonomie und dem Wettbewerb öffnenden Gesundheitswesen
- die ortsnahe Verankerung der Apotheken,
- ihre Niedrigschwelligkeit,
- ihre Vertrauensbasis in der Bevölkerung
- und ihr gut ausgebildetes Personal
eine sehr gute Basis sind ist, um Public Health-Themen in der Kommune besser zu verankern.
Für die Apotheken ist dies ein überzeugender und glaubwürdiger Weg, um ihren öffentlichen Auftrag und ihre besondere Stellung als heilberuflich orientiertes Einzelhandelsgeschäft zu begründen und zu festigen – besser als das Surfen auf der Wellness- oder Discount-Welle.
Darüber hinaus erfordern die zukünftigen Herausforderungen des Gesundheitswesens ein vernetztes Kooperieren aller Akteure bei der Versorgung der Kranken, bei der Gesundheitsförderung und bei der Prävention. Die Möglichkeiten der Apotheken in diesen Netzwerken zu ergründen, ist Aufgabe der Gesundheitswissenschaften.
Apothekerinnen und Apotheker haben Interesse an Public Health
Aber auch einige Apothekerinnen und Apotheker haben an Public Health Interesse. Über den Tellerrand der Naturwissenschaften hinaus interessierte Berufskollegen haben Public Health-Aufbaustudiengänge an Universitäten und Fachhochschulen absolviert oder sich über die Weiterbildung zum Gesundheitsberater bei den Apothekerkammern qualifiziert. [5] Eine Bündelung der Erfahrungen, wie ihr Wissen in der öffentlichen Apotheke umgesetzt wird, steht noch aus. Durch ihre Mitarbeit in multidisziplinären Teams während der Weiterbildung können sie erkennen, welches Potential in gemeinsam geplanten und durchgeführten Projekten steckt, um daraus Motivation für die tägliche Arbeit in der Apotheke zu schöpfen. Insgesamt dienen diese Aktivitäten auch der Stärkung der heilberuflichen Seite des Apothekerberufs.
Gesundheitsförderung, Prävention, Information und Beratung für Patienten
Die Politik misst dem Themenfeld Information und Beratung im Gesundheitswesen große Bedeutung zu. Denn sie hat erkannt, dass informierte Patienten ihre Gesundheit besser erhalten können, ihre Erkrankungen selbst managen und die Angebote im Gesundheitswesen effektiver nutzen können. Information und Beratung sind auch notwendig, um zunehmende wettbewerbliche Elemente im Gesundheitswesen zu flankieren, mit welchem Erfolg, soll an dieser Stelle nicht das Thema sein.
Welche Bedeutung Information und Beratung im Gesundheitswesen heute haben, lässt sich an der Entscheidung erkennen, den Krankenkassen über eine Änderung des SGB V die Finanzierung von 22 unabhängigen Beratungsstellen als Lotsen im Gesundheitswesen zu übertragen. [6] Daneben werden 5 an verschiedenen Themen orientierte bundesweit agierende Stellen gefördert. Eine Stelle zur Beratung über Arzneimittel ist auch dabei. [7]
Institute und Wissenschaftler beforschen intensiv im Rahmen von Evaluationsprogrammen die Effektivität dieser Beratungsstellen und geben die Ergebnisse zur ständigen Verbesserung der Arbeit an diese weiter. [8] Ein wesentliches Ergebnis der Forschung: In der ersten Förderphase nutzten in erster Linie besser gebildete Bevölkerungsschichten diese Einrichtungen. Die Menschen, die aber oftmals viel eher Information und Beratung benötigen, profitierten davon (noch) nicht ausreichend.
Apotheken sind aufgrund ihrer flächendeckenden Erreichbarkeit, ihrer örtlichen Verankerung und ihres hohen Vertrauensbonus gerade bei Menschen mit geringeren Bildungschancen für die Beratungsstellen interessant. Denn über die Apotheken könnten solche Bevölkerungsgruppen gezielt über die Möglichkeiten der Beratungsdienste und über andere Public Health orientierte Einrichtungen und Aktionen in der Kommune informiert werden. Da die Bedeutung dieser Stellen aber auch vielen Apothekerinnen und Apothekern möglicherweise nicht ausreichend bewusst ist, besteht hier Aufklärungsbedarf.
Apotheken für Public Health wichtig
Zur Lösung der zukünftigen Probleme, die beispielhaft mit den Stichworten
- demographiebedingte Veränderungen,
- chronische Erkrankungen,
- verlängerte Lebensarbeitszeiten und
- werdende soziale und gesundheitliche Ungleichheiten
beschrieben werden, sollte darauf hingearbeitet werden, das in Apotheken schlummernde Potenzial für eine bessere Verankerung in überregionalen und vor allem kommunalen Public-Health-Aktivitäten zu nutzen. In Großbritannien ist man hier bereits weiter.[9] Für die Apotheker ist das eine gute Chance, die Heilberuflichkeit des pharmazeutischen Personals in der beruflichen Wirkungsstätte Apotheke zu stärken und die Glaubwürdigkeitskrise in diesem Berufsfeld zu überwinden.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen, der über Amtsapothekerinnen und Amts-apotheker gute Kontakte zu Apotheken pflegt, wird sich darum bemühen, die Arbeitsfelder der Apotheken und der Gesundheitswissenschaften / Public Health gegenseitig bekannt zu machen und eine Zusammenarbeit zu verstärken.
Referenzen
- Die Fachgruppe Apotheken in der Gewerkschaft ÖTV hatte sich in den Achtzigern mit diesem Thema beschäftigt, vgl. z.B. Hansen E, Heisig M, Leibfried F, Tennstedt F: Seit über einem Jahrhundert …: Verschüttete Alternativen in der Sozialpolitik. 100 Jahre Kaiserliche Botschaft zur Sozialversicherung, Köln 1981, Bund-Verlag.
- Zum Einstieg in die Gesundheitswissenschaften s. zum Bsp.: Hurrelmann K, Laaser U, Razum O (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim und München, 4. Auflage 2006, Juventa.
- Vgl. Ottawa Charta der WHO 1986 in: euro.who.int/AboutWHO/Policy/20010827_2?language=German. Zur Gesundheitsförderung vgl. zum Bsp.: Naidoo J, Wills J: Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln 2003.
- bspw. die Forschungsverbünde, s. medsoz.uni-freiburg.de/dkgw/forschungsverb/forschverb.htm
- abda.de/[...]/DE_Gesundheitsberatung_1999.pdf
- unabhaengige-patientenberatung.de
- www.arzneimittelberatungsdienst.de
- Z. B. aok-bv.de/[...]/evaluationsbericht_65a_110205.pdf
- dh.gov.uk/assetRoot/04/10/74/96/04107496.pdf
Abgedruckt im Rundbrief 71
TERMINE
07. Oktober, online
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VdPP-Vorstandssitzung
04. November, online
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02. Dezember, online
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16. Dezember, online