Heroin: Mittel der ersten Wahl für die Erhaltungstherapie bei methadon-intoleranten Schwerstabhängigen?
Argumente zur Begründung einer Fortführung des bundesdeutschen Modellprojektes zur diamorphingestützten Behandlung unter Erweiterung mit einem Morphinstudienarm.
von Therese Unbehaun
Während sich die augenblickliche Diskussion der Suchttherapieexperten in Deutschland fast ausschließlich auf die Schweiz und inzwischen auch die Niederlande als Aushängeschilder einer erfolgreichen Regelversorgung u. a. mit Diamorphin (entspricht Heroin bzw. Diacetylmorphin) bei bestimmten Gruppen Heroinabhängiger fokussiert, bleibt die Situation in Österreich fast unbeachtet.
Hier wurden erstmals seit 1992 bei Patienten mit einer Heroinabhängigkeit, die eine Intoleranz bzw. Nebenwirkungen auf Methadon aufwiesen, Therapieversuche mit retardiertem Morphin durchgeführt.
Morphin wird von den österreichischen Patienten gut akzeptiert, führt zu einer hohen Haltequote und damit zum Erreichen eines wichtigen Zielparameters in der Erhaltungstherapie.
Bewertung des österreichischen Konzeptes unter pharmakologisch-pharmakokinetischen Aspekten
Heroin (Diacetylmorphin) ist als Vorstufe (Prodrug) von Morphin im menschlichen Organismus anzusehen, da nach seiner intravenösen Verabreichung innerhalb weniger Minuten u.a. die stark wirksamen Stoffwechselprodukte Morphin und Morphin-6-glucuronid sowie Morphin-6-sulfat entstehen. Auf Grund seiner höheren Lipophilie flutet Heroin im Vergleich zu intravenös verabreichtem Morphin schneller im ZNS an und erzeugt dabei vorübergehend eine stark euphorisierende Wirkung sowie intensives Wohlbefinden (“flash”).
Der Hauptabbauweg von Morphin nach oraler bzw. parenteraler Gabe ist die Konjugation mit Glucuronsäure und zu einem geringeren Teil mit Schwefelsäure. Hierbei entstehen Morphin-3-glucuronid (ohne bedeutsame pharmakologische Aktivität) sowie die morphinanalog wirksamen Metaboliten Morphin-6-glucuronid und Morphin-6-sulfat.
Da der physiologische Abbauweg des Heroins nach seiner Deacetylierung in kürzester Zeit in denjenigen des Morphins mündet, beruhen die Langzeitwirkungen des Heroins ausschließlich auf den pharmakologischen Effekten von Morphin.
Erst nach physiologischer Elimination von Morphin bzw. Morphin-6-glucuronid treten bei Heroinabhängigen massive Entzugserscheinungen auf.
Drogenabhängige, die frisch von der Szene kommen, jedoch auch Heroinabhängige mit psychiatrischer Komorbidität benötigen häufig zu Beginn ihrer Substitutionsbehandlung eine medikamentöse Vermittlung des Flash-Gefühls.
Verantwortlich für den Wirkungseintritt im Sinne eines Flash sind neben Substanzeigenschaften wie Lipophilie oder geringer Proteinbindung insbesondere die Zubereitungsform und die Konsumtechnik. Ausschlaggebend für den subjektiv wahrnehmbaren Wirkungsverlauf im Sinne des gewünschten Flash sind weniger pharmakokinetische oder pharmakodynamische Substanzunterschiede der Opioide sondern ihre schnelle Anreicherung im ZNS innerhalb einer möglichst kurzen Invasionszeit.
Dieser Anflutungseffekt kann u. a. auch durch Gabe von kurz wirksamen Opiaten wie z. B. injizierbarem Morphin hergestellt werden.
Morphinsubstitution à la viennoise ?
Alle pharmakologischen Betrachtungen zu Heroin stellen unter dem Aspekt seiner sehr kurzen Eliminationshalbwertszeit bei seinem Abbau über den Metaboliten Monoacetylmorphin zu Morphin hauptsächlich eine Diskussion über die Wirkungen des Betäubungsmittels Morphin und dessen Wirkung dar.
Das Nebenwirkungsprofil von Morphin ist, wie bei Heroin, deutlich günstiger als dasjenige von Methadon. Letzteres weist für einen nicht unwesentlichen Anteil multimorbider Heroinpatienten (belastet mit HBV, HCV, HIV, Tbc, Systemmykosen, Krampfleiden, Depressionen oder/und psychiatrischen Erkrankungen) zusätzlich zahlreiche problematische Wechselwirkungen mit unentbehrlichen Begleitmedikationen auf.
Eine Erhaltungstherapie mit retardiertem, d. h. aus einer Tablette bzw. Kapsel verzögert freigesetztem und langsam im Körper anflutendem Morphin kann daher eine sinnvolle Alternative in der Substitutionstherapie methadonintoleranter Patienten darstellen.
Mittlerweile ist Österreich das einzige Land, in dem die Wirkstoffe Morphinsulfat bzw. Morphinhydrochlorid in Form retardierter Arzneiformen (Kapsel bzw. Tablette) eine Zulassung mit einer Indikation zur Therapie der Opioidabhängigkeit erhielten. Die therapeutischen Ergebnisse in Österreich finden international positive Beachtung, da sie eine weitere medizinische Option zur Stabilisierung zahlreicher Patienten durch Umstellung von Heroin auf retardiertes Morphin beinhalten.
Als Einwand gegen eine Morphinsubstitution wird das Problem der Verbreitung dieses Medikamentes auf dem Schwarzmarkt angeführt.
Der Medikamentenmissbrauch ist kein spezielles Wirkstoffproblem des Morphins: Eine ambulante Verordnung von Medikamenten – auch z. B. im Bereich der Schmerztherapie – beinhaltet stets die Möglichkeit der Diffusion hochwirksamer Therapeutika in den Schwarzmarkt. In den USA stellen beispielsweise zerkleinerte opioidhaltige Matrixpflaster (“Schmerzpflaster”) begehrte Partydrogen dar. Aus dem deutschen (Schwarz-)Markt erreichte uns vor kurzem die Information, wonach die missbräuchliche Kombination des Antidiarrhoikums Loperamid mit z. B. bestimmten Antihypertonika seine ursprünglich sehr geringe ZNS-Wirksamkeit beträchtlich steigert und euphorische Zustände bewirkt.
Rechtliche Bewertung
Mit Blick auf die Zielparameter ‚Verbesserung des Gesundheitszustandes’ und ‚Rückgang des illegalen Drogenkonsums’ beschreibt ein Teil der Fachwelt als Ergebnis der klinischen Prüfung eine statistisch signifikante Überlegenheit der Heroin – gegenüber der Methadonbehandlung.
Derzeit können die Ergebnisse dieser Studie jedoch nicht als Beleg dafür angesehen werden, wonach ausschließlich Heroin als Mittel der ersten Wahl für die Erhaltungstherapie bei methadonintoleranten Schwerstabhängigen betrachtet werden kann.
Bei Heroin handelt es sich um einen nicht verkehrsfähigen Stoff sowohl der Anlage I des BtMG (Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln) als auch der UN-Konvention über Suchtstoffe.
Die medizinische Verschreibungsfähigkeit von Heroin im Rahmen der Erhaltungsstherapie setzt seine Umstufung von Anlage I in Anlage III zu § 1 (1) BtMG unter Änderung des BtMG voraus, welche ausschließlich gemäß § 1 (2) BtMG durch eine entsprechende politische Entscheidung der Bundesregierung realisiert werden kann.
Zusätzlich sind erhebliche Ergänzungen der BtMVV (Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln) hinsichtlich des noch nicht geklärten Vertriebsweges der unter ärztlicher Aufsicht streng individuell zu dosierenden parenteralen Applikationsform und der aufwändigen Sicherungsmodalitäten von Heroinvorräten erforderlich.
Erst nach Abbau dieser rechtlichen Hürden wird eine – organisatorisch außerordentlich aufwändige und dadurch kostenintensive – Regelversorgung mit Heroin durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattungsfähig.
Die Opioidabhängigkeit wird zunehmend international als psychiatrische Erkrankung anerkannt und stellt höchste Ansprüche an Diagnostik und Therapie inklusive einer unentbehrlichen psychotherapeutischen Behandlung.
Bekanntlich gibt es keinen Goldstandard unter den Opioiden im Rahmen der Suchttherapie, da die vielfach bei Suchtpatienten zusätzlich vorhandenen psychiatrischen und Infektions-Erkrankungen bzw. deren Medikationen, daraus resultierende Interaktionen sowie genetisch bedingte, interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Metabolisierungsprofile therapeutisch berücksichtigt werden müssen.
Goldstandard kann hier nur die individualisierte Therapie darstellen, die verschiedene Optionen medikamentöser Erhaltungstherapien wahrnehmen muss.
Es ist nicht auszuschließen, dass ein bedeutender Anteil methadonintoleranter Probanden der bundesdeutschen Heroinstudie ebenso wie in Österreich mit Erfolg auf die o. g. retardierten Morphinpräparate, ggf. unter einschleichender Dosistitration mit parenteralem Morphin, umgestellt werden kann.
Nach § 3 (2) BtMG kann das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Erlaubnis für die in Anlage I bezeichneten Betäubungsmittel nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen.
Der Ausnahmefall ist u. a. nur dann – in Analogie zu § 13 (1) Satz 2 BtMG – als begründet zu betrachten, wenn der beabsichtigte Zweck auch auf andere Weise, d. h. z. B. auch unter Berücksichtigung der in Anlage III BtMG verzeichneten Betäubungsmittel nicht erreicht werden kann.
Eine Fortsetzung der deutschen Heroinstudie mit einem zusätzlichen Morphinstudienarm zum Zwecke der Zulassung von Morphin zur Substitution ist daher sowohl von wissenschaftlichem wie auch öffentlichem Interesse.
Morphin ist Stoff der Anlage III zu § 1 (1) BtMG und im Gegensatz zu Heroin ein verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel.
Zum jetzigen Zeitpunkt lassen sich die Ergebnisse eines sich abzeichnenden Sachverständigenstreites und der politischen Diskussion auf dem Hintergrund der Bewertung des bundesdeutschen Modellprojektes zur diamorphingestützten Behandlung Opiatabhängiger noch nicht absehen.
Nach offizieller Schätzung konsumieren in Deutschland ca. 120.000 Personen regelmäßig Heroin, darunter sollen sich ca. 1.500 Schwerstabhängige befinden.
Es existieren nicht wenige zur oralen Schmerztherapie zugelassene, retardierte Morphinzubereitungen in Deutschland, die für eine Erhaltungstherapiestudie kostengünstig zur Verfügung stünden.
Die Zulassung von oralem, retardiertem sowie auch von injizierbarem Morphin zum Zwecke der Substitution würde keine folgenschwere Gesetzesänderung bedingen, sondern lediglich eine Änderung der BtMVV – ein sicherlich sehr kurzfristig durchzuführendes und politisch weniger umstrittenes Verfahren als eine Anlagenumstufung von Heroin.
Bei Akzeptanz der Erhaltungstherapie mit oralem retardiertem Morphin sind langfristig bei stabilen Patienten die Modalitäten einer Take-home-Vergabe abzuwägen.
Ethische Aspekte begründen adäquate medikamentöse Therapieoptionen, die einen differenzierten Opioideinsatz – analog einer Schmerztherapie nach dem WHO-Stufenschema – ermöglichen.
Diese Forderung kann nicht nur auf der Grundlage der Helsinki-Deklaration für die ehemaligen Heroinprobanden des bundesdeutschen Modellprojektes gelten sondern im Sinne einer Gleichbehandlung in der Folge auch für alle übrigen Schwerstabhängigen.
Literatur
- Hrsg. Krausz, Haasen, Naber:
- Pharmakotherapie der Sucht, ISBN 3-8055-7482-7
- Gabriele Fischer, Beate Kayer:
- Substanzabhängigkeit vom Morphintyp – State-of-the-Art der Erhaltungstherapie mit synthetischen Opioiden (Zeitschrift: Psychiatrie & Psychotherapie (2006) 2/2:39-54; Printed in Austria): Offizielles Dokument der ÖGPP (PDF)
- Handbuch für Drogenkranke der Stadt Wien
- (PDF)
- Jörg Gölz:
- Der Einfluss der verschiedenen Opiate auf die Therapie der HIV-Injektion, der HCV-Infektion (HTML)
Abgedruckt im Rundbrief 66
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