Zur Weiterentwicklung der geriatrischen Pharmazie

Interview mit Apothekerin Ingeborg Simon

Oktober 2014

 

LUHMANN: Zunächst erst einmal Herzlichen Glückwunsch zum Carola Gold Preis, der Ihnen am 13. März dieses Jahres verliehen wurde. Der Carola Gold Preis ehrt Sie damit für herausragendes Engagement im Bereich der gesundheitlichen Chancengleichheit. In diesem Gespräch wollen wir nun über die Chancengleichheit der älteren Bevölkerung, sowohl in den Heimen als auch über die Pflegebedürftigen im ambulanten Bereich sprechen, insbesondere auch über die Arzneimitteltherapie von geriatrischen Patienten.  Wie beurteilen Sie die Einführung von Heimversorgungsverträgen, zum einen für die öffentliche Apotheke und Alten- und Pflegeheime, zum anderen für die Patientinnen und Patienten? Hat die Einführung der Heimversorgungsverträge vor gut 10 Jahren, im Jahr 2003, die pharmazeutische Betreuung in den Alten- und Pflegeheimen verbessert? Wie sehen sie die Situation heute aus Sicht des LSBB?

 

SIMON: Sicherlich ist die Einführung von Heimversorgungsverträgen ein erster Schritt. Die Verträge an und für sich sagen aber noch nichts über deren Qualität aus. Denn die Qualität eines solchen Vertrages muss ja erfahrbar werden für die Menschen, die es betrifft. Es muss erkennbar sein, dass die Arzneimittelversorgung sachgerecht und verständlich ist. Was immer zu kurz kommt und in den Heimverträgen keine Rolle spielt, ist, dass der Betroffene selbst in die Therapie aktiv mit einbezogen wird, soweit das sein Gesundheitszustand erlaubt. Der Patient muss das Gefühl haben, dass seine Bedürfnisse und seine Probleme gehört und dann qualifiziert angegangen werden.  Heimversorgungsverträge dienen somit als wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen dem Pflegepersonal und der versorgenden Apotheke zum Wohle des Patienten.

 

LUHMANN: Nicht nur im Apothekenrecht, sondern auch auf Seiten der Heime, Stichwort: Heimrecht und Wohn- und Teilhabegesetz (WTG), gab es Änderungen. Als das Heimrecht 2006 auf die Länder übertragen wurde, setzten die Länder die ihnen übertragene Aufgabe unterschiedlich um, zeitlich wie auch inhaltlich. Welche Probleme und Herausforderungen sehen Sie bezogen auf das Heimrecht?

 

SIMON: Die Einführung der Heimrechte auf Länderebene ist damals sehr kritisch diskutiert worden. Es gab einen großen Widerstand auf Bundesebene, das Heimrecht auf föderale Ebene zu bringen. Man wollte vermeiden, dass jedes Bundesland ein eigenes Heimrecht bekommt, zumal auch einige Rechte beim Bund verblieben sind. Somit waren die Startbedingungen einigermaßen ungünstig.

 

Beim Heimrecht geht es vor allem um die Praxis und die Frage: Wie gehe ich damit um? Welche Rechte hat der Patient? Welche Rolle spielt der Betroffene? Alle, auch die Apotheker fordern: „Der Mensch, als Patient, muss mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen.“ Wenn das so ist, dann müssen demnach sowohl das Heimrecht als auch die Versorgungsverträge aus der Perspektive des Patienten betrachtet werden.

 

In Berlin gibt es das Wohn- und Teilhabegesetz seit dem 1. Juli 2010. Der Landesseniorenbeirat Berlin (LSBB) war an der Entwicklung dieses Gesetzes in Berlin beteiligt. In allen Bundesländern ist die Heimversorgung mit Fachärzten und Allgemeinmedizinern unbefriedigend. Das Problem der medizinischen Versorgung der Betroffenen steht darum natürlich im Zentrum des Interesses, so dass die Arzneimitteltherapie als ein nachgeordnetes Problem im Hintergrund bleibt. Das hat aus meiner Sicht aber auch wesentlich damit zu tun, dass sich die Kammern selbst hier zu wenig engagieren. Die Kammern müssen beweisen wollen, dass sie sich engagieren, zum Beispiel mit der Aufnahme des Weiterbildungsbereichs „Geriatrische Pharmazie“.

 

LUHMANN: Der Weiterbildungsbereich „Geriatrische Pharmazie“ wurde im November 2009 auf Anregung der Apothekerkammer Nordrhein in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesapothekerkammer (BAK) aufgenommen. Bis zum Stichtag 01.01.2014 hatten bundesweit ca. 400 Apothekerinnen und Apotheker diese Weiterbildung absolviert. Die Kammern in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Thüringen haben diesen Weiterbildungsbereich nach wie vor nicht. 2010 hatten Sie bereits eine bundesweite Aufnahme der Zusatzqualifikation „Geriatrische Pharmazie“  gefordert. Was ist aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren in Berlin geschehen?

SIMON: In Berlin ist bis heute nichts geschehen, trotz entsprechender Anregung durch die Fraktion Gesundheit in der Apothekerkammer.

 

Nachdem die Apothekerkammer mit dieser Aufforderung konfrontiert war, reagierte sie abweisend mit der Begründung, dass das Interesse der Mitglieder nicht gegeben sei. Auch der LSBB hat im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung darauf gedrängt. Ich schaue mir die Fort- und Weiterbildungsangebote der Apothekerkammer Berlin regelmäßig an. In ihrer aktuellen Veranstaltungsübersicht kommt die Zielgruppe der geriatrischen Patienten nur einmal vor. Die geriatrischen Patienten müssten schon wegen ihres hohen Anteils als Zielgruppe bei Fort- und Weiterbildungsangeboten einen besonderen Stellenwert haben.  So erhalten nach Aussage des Sachverständigenrats im Gutachten 2009 40 % der Frauen über 65 Jahre neun und mehr Wirkstoffe in Dauertherapie. 

 

LUHMANN: Von den Kammern nun zu den Universitäten: es wird auch diskutiert, dass die „Geriatrische Pharmazie“ schon bundesweit in den Universitäten gelehrt werden soll, angesiedelt  im Bereich der Klinischen Pharmazie. Somit brauchte man keine durch die Kammern organisierte Weiterbildung zur „Geriatrischen Pharmazie“. Was halten Sie von dem Vorschlag?

 

SIMON: Es ist für mich sehr schwer nachvollziehbar, dass man die geriatrische Pharmazie nur an einem Ort installieren will. Als hätte man damit seine Pflicht getan. Wir müssen in unserem Beruf als Apotheker,  solange wir beruflich tätig sind, kontinuierlich dazulernen, weil sich die Wissenschaft und mit ihr die pharmakotherapeutischen Erkenntnisse ständig weiterentwickeln. Selbstverständlich muss die Geriatrische Pharmazie an den Unis gelehrt werden, da bietet sich die Klinische Pharmazie an. Wenn die Geriatrische Pharmazie bereits in der Ausbildung verankert wird, erfährt der Pharmaziestudent schon von Anfang an ihre berufspraktische Bedeutung. Die Wissensvermittlung darf aber mit dem Ende des Studiums auf gar keinen Fall aufhören. Wie will man sonst in der Praxis die fachliche Qualität dauerhaft gewährleisten? Und hier sehe ich alle Kammern in der Verantwortung!

 

Nicht nur in den Heimen, auch im ambulanten Pflegebereich ist die Zusatzqualifikation sinnvoll. Die Pflegebedürftigen sind in Berlin zu über 70 % zu Hause und werden dort betreut.

 

In Thüringen gibt es nach Ihrem Hinweis die Weiterbildung der „Geriatrischen Pharmazie“ gar nicht. Das am 1. April 2014 in den Ländern Sachsen und Thüringen gestartete Pilotprojekt ARMIN richtet sich aber an Menschen, die mehr als fünf Arzneimittel einnehmen. Das sind in der Regel ältere Patienten. Da hielte ich die Qualifizierung der beteiligten Apotheken für die geriatrische Beratungstätigkeit für erforderlich.

 

Nicht jeder Berufsangehörige muss die Weiterbildung machen, aber spätestens dann, wenn beispielsweise die Aufgabe der Heimversorgung übernommen wird, müssen die hier bestehenden spezifischen Anforderungen an die Arzneimittelversorgung qualifiziert erfüllt werden.

 

LUHMANN: Sie fordern, dass Heimversorgungsverträge nur mit einem Apotheker, der die Zusatzqualifikation „Geriatrische Pharmazie“ trägt, abgeschlossen werden können. Wie würden Sie dann die Situation in ländlichen Gebieten einschätzen? Läge hier ein Risiko zur eingeschränkten Versorgung vor, oder käme es gar zu einer Marktbereinigung, weil nur wenige Apotheker die Weiterbildung durchgeführt haben oder durchführen konnten?

 

SIMON: Die Antwort auf die von Ihnen gestellte Frage ist schwierig, solange die grundsätzlichen Versorgungs- und Strukturmängel in den ländlichen Regionen nicht behoben worden sind. Da erscheint die Frage nach der Geriatrischen Pharmazie in ländlichen Regionen eher abseitig. In unterversorgten Regionen, in denen in der Regel überwiegend ältere Menschen leben, müssen die Voraussetzungen für eine angemessene und erreichbare altersspezifische Arzneimittelversorgung und -betreuung erst geschaffen werden. Da kann weder ein erweitertes Angebot von einzelnen Arztpraxen noch von zusätzlichen Apotheken die Antwort sein. Im gerade erschienenen Gutachten des Sachverständigenrats wird ja wie auch schon in früheren Gutachten auf die Installierung multiprofessioneller Versorgungszentren und Gesundheitsnetze gesetzt. Hier muss auch die geriatrische Kompetenz des Apothekers Bestandteil der Angebotspalette werden, insbesondere wenn es um die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung für die ältere Generation geht.

 

Heute müssen wir uns zunächst dafür einsetzen, dass Geriatrische Pharmazie in absehbarer Zeit als Weiterbildungsgebiet in allen Apothekerkammern anerkannt und angeboten wird. Für Berlin werde ich mit dem Landesseniorenbeirat weiter Druck auf die Politik und die Kammer machen, damit der lange überfällige Schritt bei uns endlich getan wird. Der LSBB verbindet das mit der Forderung, nur diejenigen Apotheken zur Heimversorgung zuzulassen, die über eine entsprechende geriatrische Kompetenz verfügen.

 

LUHMANN: Der von Ihnen angesprochene Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat kürzlich ein Gutachten mit dem Titel „Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektive für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“ veröffentlicht. Es fordert „Medikations-Check-Ups“ und strukturierte Pharmakotherapie-Qualitätszirkel-Programme zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) bei geriatrischen Patienten. Welche Rolle spielt der Apotheker, bzw. die Geriatrische Pharmazie dabei? Und wer sollte ihrer Meinung nach für die entstehenden Kosten aufkommen, die durch die Extra-Leistungen entstehen?

 

SIMON: Die Vorschläge des Sachverständigenrats sind nicht neu. Sie fanden sich auch schon - und wie ich finde noch präziser auf das Aufgabenfeld der Apotheke bezogen - im Sondergutachten 2009. An solchen Empfehlungen besteht ja kein Mangel. Jeder Vorschlag, der auf Kooperation der für die Qualität der Arzneimittelversorgung zuständigen Verantwortlichen in Medizin, Pharmazie und Pflege orientiert, ist unterstützenswert. Bisher fehlte der politische Wille, diese Überlegungen, die ja auch schon in diversen lokalen Modellversuchen erprobt wurden, durch die Schaffung der entsprechenden strukturellen und finanziellen Voraussetzungen zu ermöglichen. Ob das Projekt ARMIN einen Beitrag zur Erhöhung der Arzneimittelsicherheit bei geriatrischen Patienten leisten wird, bleibt abzuwarten. Dass die Vermittlung geriatrisch-pharmazeutischer Kompetenz auf allen Ebenen der Aus-, Fort - und Weiterbildung hier einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit im Alter leisten kann, ist für mich unstrittig. Die von Ihnen angesprochenen Kostenfragen stehen für mich erst am Ende einer erkennbaren Erfolgsgeschichte auf der Tagesordnung.

 

LUHMANN: Wie steht es um die Qualität der Weiterbildung? Wie kann man gewährleisten, dass alle geriatrischen Patienten, nicht nur in den Heimen, eine sichere Arzneimitteltherapie bekommen?

 

SIMON: Erste Voraussetzung ist, dass die Geriatrische Pharmazie wie die Offizin - oder die Klinische Pharmazie zum festen Bestandteil der gesamten pharmazeutischen Bildungskette wird. Das ist für die Heimversorgung genauso hilfreich wie für die ambulante Versorgung, die ja den höchsten Anteil an pflegebedürftigen Menschen zu versorgen hat und damit auch die höchsten Anforderungen an die pharmazeutische Betreuung stellt.

 

Dabei muss klar sein, dass geriatrische Kompetenz mehr beinhaltet als exaktes pharmazeutisches Fachwissen. Geriatrische Pharmazie geht über naturwissenschaftliches Wissen hinaus. Hier ist mindestens im gleichen Umfang soziale Kompetenz gefragt, denn der mit zunehmendem Alter immer häufiger von Multimorbidität und chronischen Krankheitsverläufen betroffene Mensch muss zusätzlich mit Einschränkungen seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten, mit kognitiven Einschränkungen und Handicaps bei seiner Mobilität rechnen. Hier liegen die ernsten Herausforderungen für die Vermittlung geriatrischer Kompetenz in der Apotheker-Patient-Beziehung. Es reicht daher nicht, wenn der Berufsstand öffentliche Bekenntnisse zum Patienten, der im Mittelpunkt seines Handelns steht, abgibt. Er muss vor allem gegenüber dem größten Bevölkerungsanteil, für den die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung von essentieller Bedeutung ist, den hier zunehmenden Anforderungen gerecht werden. Das bedeutet nach meiner Überzeugung ein hohes berufspolitisches Engagement für die Verbreitung der geriatrischen Pharmazie.

 

LUHMANN: Im Hinblick auf den demografischen Wandel der Gesellschaft und der fachlichen Qualität des Pharmazeutischen Personals, bitte noch ein Wort zur Zukunft der „Geriatrischen Pharmazie“ bzw. Chancengleichheit in der „Geriatrischen Pharmazie“!

 

SIMON: Ich glaube, Ihre Frage schon zum Teil mit den vorherigen Ausführungen beantwortet zu haben. Hinter der Frage nach der Chancengleichheit steht nach meinem Verständnis ein sozialpharmazeutischer Aspekt. Ihn hier zu benennen, erscheint mir wichtig, denn geriatrische Pharmazie hat nicht allein mit naturwissenschaftlichen Aspekten zu tun, die für sich genommen schon komplex genug sind. Hinzu kommt der betroffene Mensch in seiner prekären Lage als leidender Patient mit gesundheitlichen, psychischen und sozialen Belastungen, die alle zusammen wirksam werden. Geriatrische Kompetenz bedeutet für mich immer auch soziale Kompetenz, die für die partnerschaftliche Apotheker-Patient-Beziehung im Interesse einer hohen Adhärenz, gegenseitigen Vertrauens und erfolgreicher „pharmaceutical care“ gebraucht wird. Hier ist eine spezifische individuelle Betreuung im Einzelfall unter Beachtung biografischer Daten zur Bildung, Herkunft und Lebensgeschichte des Einzelnen notwendig, wie sie uns ja seit langem schon aus der Sozialmedizin bekannt ist und in jedes erfolgreiche Betreuungskonzept gehören sollte. Das lerne ich nicht im klassischen naturwissenschaftlich ausgerichteten Ausbildungsverlauf, dazu braucht es die Sozialpharmazie mit ihrer gesamtgesellschaftlichen Sichtweise als Zugang und Flankierung zur geriatrischen Betreuung und Beratung, die mit Blick auf die weiter ansteigende Lebenserwartung und einem wachsenden Anteil hochbetagter Menschen gar nicht hoch genug bewertet werden kann.

 

Frau Simon, vielen Dank dass Sie sich die Zeit genommen haben und herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.

 

Das Interview wurde durchgeführt von Esther Luhmann, Münster, im Rahmen ihrer Tätigkeit als Pharmazeutin im Praktikum im Bereich Sozialpharmazie des Landeszentrums Gesundheit NRW.

 

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

 

Erschienen in Rundbrief Nr. 90

http://www.vdpp.de

TERMINE

 

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04. November, online

Pharmacists for Future (Ph4F) 

 

 

25. November, online

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02. Dezember, online

Pharmacists for Future (Ph4F)

 

02. Dezember, online

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16. Dezember, online

VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"