Mehr heilberufliches Engagement in der Selbstmedikation!
August 2013
Auf dem Weg zur Heilberuflichkeit der ApothekerInnen ist eine evidenzbasierte und evaluierte Selbstmedikation unabdingbar, meint Udo Puteanus. Wenn IGeL-Leistungen drohen, den Arzt zum Kaufmann werden zu lassen, sollte die Apothekerschaft einen Gegentrend setzen: Offenheit gegenüber Sinn und Unsinn bei der Selbstmedikation.
Individuelle Gesundheitsleistungen, kurz IGeL genannt, bieten Ärzte ihren Patienten gegen Bares an. Es handelt sich um Leistungen, „die nicht zum festgeschriebenen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehören“ (IGeL-Monitor) und deswegen in der Regel von Patienten selbst bezahlt werden müssen.
Der Arzt als Kaufmann?
Seit Jahren wird die Ärzteschaft kritisiert, mit den IgeL-Leistungen Patienten teilweise über den Tisch zu ziehen. Viele dieser Leistungen seien entweder von wenig Nutzen für die Patienten oder sogar gefährlich, wenn dadurch Folgeleistungen ausgelöst würden, die den Patienten psychisch oder körperlich Schaden zufügen können.
Erst im März 2013 veröffentliche das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) Ergebnisse einer repräsentativen Befragung der Bevölkerung über ihre Erfahrungen mit IgeL-Leistungen bei Ärzten1. Das Institut fasst zusammen: „Der IGeL- Markt wächst weiter – inzwischen geben fast 29,9 Prozent der GKV-Versicherten an, dass ihnen in den letzten zwölf Monaten beim niedergelassenen Arzt eine ärztliche Leistung als Privatleistung angeboten oder in Rechnung gestellt wurde. Gleichzeitig zeigen sich deutliche Defizite bei der Einhaltung formalrechtlicher Vorgaben und der Qualität der ärztlichen Beratung: Die befragten IGeL-Patienten haben mehrheitlich keine rechtliche Zustimmung erteilt (65,9 %), und mehr als ein Fünftel (22,1 Prozent) hat keine Rechnung über die erbrachte Leistung erhalten. Nur in jedem zweiten Fall (53,5 Prozent) ist der Nutzen gut erklärt worden, nur 46,2 Prozent erhielten vom behandelnden Arzt bei angebotenen Diagnoseverfahren Angaben über die Zuverlässigkeit. Bei mehr als einem Viertel (26,9 Prozent) der angebotenen IGeL fühlten sich die Patienten zeitlich unter Druck gesetzt.“
Offensichtlich werden hier vom WidO und von den befragten Patienten hohe Maßstäbe angesetzt, nämlich die üblicherweise vom Arzt geforderte Unabhängigkeit bei seiner Beratung und seinen diagnostischen und therapeutischen Angeboten. Man erwartet, dass er nichts vorschlägt, was nicht der Gesundheit des Patienten dient.
Wie ist das in der Selbstmedikation in der Apotheke? Erwarten auch hier die Patienten eine vergleichbare Leistung vom Apotheker, der doch so gern auf Augenhöhe zum Arzt ein Heilberufler sein möchte? Wird auch hier erwartet, dass der Apotheker nur die Gesundheit seines Patienten im Blick hat, wenn er Arzneimittel empfiehlt oder abrät?
Der Apotheker auf Augenhöhe
Ergebnisse aus Umfragen über die Leistungen der Apotheker zeigen stets das hohe Vertrauen, dass die Bevölkerung in den Apothekerberuf hat. Allerdings ist der Bevölkerung klar, dass es sich bei der Apotheke auch um ein Geschäft handelt, in dem verkauft wird, dass also der Verkauf und der damit erzielbare Gewinn im Interesse des Apothekenbesitzers ist. Deswegen können die Tests von Verbraucherschützern, die den Apothekern andauernd ein eher mäßiges Beratungsniveau attestieren, keinen allzu großen Schaden anrichten. Beim Arzt ist diese Sicht der Dinge offensichtlich (noch) nicht so ausgeprägt. Hier wird weiterhin erwartet, dass der Verkauf von IGeL-Leistungen vom Arzt nicht aus ökonomischen Interessen des Arztes, sondern rein aus der Verpflichtung zur bestmöglichen Betreuung der Patienten heraus erfolgt. Sicherlich liegt man nicht falsch, wenn man vermutet, dass sich im Laufe der nächsten Jahre diese Sicht ändern wird und auch die Patienten lernen müssen, dass IGeL-Leistungen zumindest auch der Gewinnerzielung von Ärzten dienen. Und sicherlich werden Verbraucherverbände, Politik, Krankenkassen und in Einzelfällen auch die Standesorganisationen der Ärzte den Finger in die Wunde legen, kritische Angebote unter die Lupe nehmen, vor unseriösen Angeboten warnen und die Bevölkerung versuchen aufzuklären. Es soll sich eben der Gedanke festigen: Der einzelne Patient kann sich ja gegen die Angebote wehren, alle Informationen lagen ja vor. Der Markt soll es also regeln.
Der Selbstmedikationsmarkt
Im Selbstmedikationsmarkt sind wir schon seit Jahrzehnten – ja eigentlich seit Jahrhunderten – so weit. Der Markt regelt es – und zwar auf niedrigem rationalen Niveau. Gestützt auf Werbung und den Gewinninteressen der Anbieter (Hersteller, Großhandel, Verlage, Apotheke) hat sich etwas etabliert, was niemanden groß aufregt. Es wird alles Mögliche an die Frau und an den Mann gebracht, ohne dass groß reflektiert wird, was davon wirklich im Sinne der Vernunft wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und den Rahmen des Notwendigen nicht überschreitet. Dies sind zumindest die Bestimmungen des SGB V. Die Kriterien gelten für die Behandlung von tatsächlich Erkrankten oder für im Sinne des SGB V sinnvolle Vorsorge.
Es gibt natürlich sinnvolle Arzneimittel im Rahmen der Selbstmedikation, die bei Erkrankungen rational eingesetzt werden können, doch fehlt eine Übersicht oder eine Diskussion darüber, wie viel davon wirklich sinnvoll und notwendig ist und welcher Anteil am Selbstmedikationsmarkt rausgeschmissenes Geld ist. Interessiert ja auch nicht wirklich, denn der Einzelne kann ja entscheiden – und warum nicht auch aus Wellnessgründen mal das ein oder andere Produkte kaufen und vielleicht sogar anwenden. Man weiß ja, schon allein der Akt des Kaufens kann zu Glücksgefühlen führen.
Wenn sich die Ärzteschaft durch IGeL-Leistungen auch auf diesen Weg begibt, wird das sicherlich über die Jahre zu einer vergleichbaren Gleichgültigkeit führen. Es wird keinen mehr wirklich aufregen, wenn Unsinniges und ggf. sogar Gefährliches angeboten und verkauft wird. Der Einzelne kann es ja verhindern, er ist ja aufgeklärt. Damit droht allerdings die Gefahr, dass auch der Arzt zum Kaufmann wird, wie der Apotheker. Werden Gewinninteressen strukturell verankert, wird das auch im ärztlichen Denken und Handeln sowie bei den Erwartungen der Bevölkerung Veränderungen bewirken. Wenn auf diese Weise die Heilberuflichkeit des Arztes neu definiert wird, dann haben die Apotheker bald ein zentrales standespolitisches Ziel erreicht – die Augenhöhe zum Arzt – ohne viel dazu tun zu müssen. Beide sind bzw. werden Kaufleute. Schön für die Apothekerschaft?
Heilberuflichkeit und Selbstmedikation
In der offiziellen Standespolitik der Apotheker und in Statements der Gesundheitspolitik wird eher ein anderes Ziel propagiert. Die Heilberuflichkeit soll allein im Sinne einer Anwaltstätigkeit für die Belange des Patienten definiert sein. Wirtschaftliche Interessen sollen möglichst klein gehalten werden. Das Vertrauen in das Gesundheitssystem soll erhalten bleiben – ein Drahtseilakt, wie in der Apothekerschaft zwischen Kaufmann und Heilberufler immer wieder zu beobachten ist.
Soll die Heilberuflichkeit im Selbstmedikationsbereich wirklich zur Leitschnur werden, muss sich eine Menge ändern. Man sollte sich in der Apothekerschaft nicht still darüber freuen, dass das Niveau in der niedergelassenen ärztlichen Praxis sinkt, und man in absehbarer Zeit der Augenhöhe zum Arzt nahe kommt. Stattdessen sollte bei der Selbstmedikation das Ziel sein, das Niveau der Beratungsleistungen zu erhöhen und sich öffentlich nachweisbar dazu bekennen, dass sich die Apothekerschaft zum Anwalt der Interessen der Patienten macht.
Die Arzneimittelkommission der Ärzteschaft macht es vor, wie man herstellerunabhängige Arzneimittelinformationen erstellt, Fortbildung betreibt und öffentlich auf Missstände hinweist. Warum sind vergleichbare Aktivitäten der Arzneimittelkommission der Apothekerschaft kaum erkennbar? Es wäre doch bspw. gar nicht so schwer, jährlich einen Überblick über die Selbstmedikation zu erstellen, die Daten sind über die Apotheken erhältlich. Es wäre sinnvoll, unabhängige Wissenschaftler eine Bewertung erstellen zu lassen, darüber bspw. einmal im Jahr im Rahmen eines Selbstmedikationskongresses offen zu diskutieren und innerhalb der Apothekerschaft Ziele zu vereinbaren, was man im kommenden Jahr zur Verbesserung der Situation anpacken will. Das müsste auch öffentlichkeitswirksam begleitet werden, um die Bevölkerung auf diesem neuen Weg mitzunehmen. Danach ließe sich anhand aktualisierter Zahlen ermitteln, ob die Ziele erreicht wurden oder nicht. Aufbauend auf diese Informationen könnten weitere Fortbildungsmaßnahmen, Pseudo Customer-Projekte u. a. auf den Weg gebracht werden, um das Niveau der Selbstmedikation über Apotheken langsam aber sicher zu steigern. Ergebnisse über solche Untersuchungen müssten aber öffentlich gemacht werden, um das Vertrauen in die Arbeit der Standesorganisationen und der Arzneimittelkommission zu steigern.
Bei der Diskussion eines neuen Leitbildes des Apothekers sollte deswegen der Selbstmedikationsbereich nicht vergessen werden. Die Heilberuflichkeit sollte nicht nur in öffentlichen Statements als selbstverständliche Leitschnur apothekerlichen Handelns dargestellt werden; gerade im Selbstmedikationsbereich kann die Apothekerschaft zeigen, wie sehr sie bereit ist, den verbalen Zielen konkrete Handlungen folgen zu lassen.
Derzeit werden ca. 14 % des Umsatzes in der durchschnittlichen Apotheke mit Arzneimitteln der Selbstmedikation gemacht. Allerdings bedeuten diese 14 % ungefähr 40 % der abgegebenen Packungen in der Apotheke. Hintergrund ist der durchschnittlich geringere Preis von Selbstmedikationsarzneimitteln. Ob sich durch eine Hinwendung zu mehr Rationalität in der Selbstmedikation tatsächlich so viel Umsatzeinbußen ergäben, wie sicherlich manche befürchten, ist gar nicht sicher und würde sicherlich in erster Linie auf die Apotheken mit großer Anzahl von Laufkundschaft und wenig Stammkundschaft zutreffen. Der Gewinn für die Gesundheit der Bevölkerung und für die Glaubwürdigkeit des Heilberufes Apotheker wäre langfristig aber sicherlich höher zu bewerten.
Über die Apothekerkammer Berlin konnte vor einigen Jahren auf Initiative des VdPP ein Antrag zum Deutschen Apothekertag eingebracht werden, der zum Ziel hatte, die Selbstmedikation regelmäßig zu evaluieren und kritisch durch externe Wissenschaftler begleiten zu lassen. Damals war die Zeit offensichtlich noch nicht reif – der Antrag versandete in einem ABDA-Ausschuss. Vielleicht ergibt sich mit der Leitbilddiskussion innerhalb der Apothekerschaft jetzt eine erneute Möglichkeit, darüber zu diskutieren – auch vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen um IGeL sicherlich ein guter Zeitpunkt.
Udo Puteanus
Quellen
1 http://www.wido.de/wido_monitor_1_2013.1.html
Erschienen im VdPP Rundbrief Nr. 87
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