Offener Brief
Juli 2001
In großer Sorge um die Zukunft ihren Berufsstandes haben sich in Berlin ApothekerInnen getroffen, die in unterschiedlichen Bereichen ihren Beruf ausüben.
Was sie verbindet ist ihre gemeinsame Profession.
Wir – die Unterzeichnenden – sind beunruhigt angesichts der sich abzeichnenden Umbrüche in der Gesundheits- und Arzneimittelpolitik. Obwohl sich Änderungen in eine Richtung abzeichnen, die für unseren Berufsstand von essentieller Bedeutung sein werden, reagiert die Standespolitik nur sehr zögerlich auf diese Entwicklung.
Das Bundesgesundheitsministerium, die Krankenkassen, Verbraucherschutzverbände und Parteien diskutieren öffentlich über Fremd- und Mehrbesitz von Apotheken, über E-Commerce und Versandhandel, über die Arzneimittelpreisverordnung und das elektronische Rezeptformular.
Das alles sind Symptome dafür, dass die bisherigen Strukturen im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden. Angesichts des Wandels von der Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft ist es nicht weiter verwunderlich, wenn auch pharmazeutische Dienstleistungen auf den Prüfstand gestellt werden.
Die ABDA nimmt diese Entwicklung nicht ernst genug. Anstatt sie als Herausforderung anzunehmen und innerhalb des Berufsstandes auf allen Ebenen zu thematisieren sowie zur Entwicklung eigener neuer Konzepte zu nutzen, profiliert sich die ABDA mit ihren Mitgliedsorganisationen als Besitzstandswahrerin und beschränkt sich auf Abwehrkämpfe zum Erhalt des Status quo.
Damit riskiert sie, dass solche Debatten zunehmend an der Apothekerschaft vorbei geführt werden. Die Apothekerschaft verliert durch diese Haltung die Möglichkeit Einfluss zu nehmen, gestalterisch tätig zu werden und Verantwortung zu übernehmen.
Unabhängig von den Positionen, die die Unterzeichnenden individuell oder als VertreterInnen pharmazeutischer Gruppen dazu im Einzelnen vertreten, besteht Übereinstimmung darin, dass eine offensive, kritische und konstruktive Auseinandersetzung Not tut.
Hierbei erscheint es uns sinnvoll und hilfreich, Grundsätze oder unverzichtbare Voraussetzungen zu formulieren, die unabhängig von aktuellen Entwicklungen in jedem Fall zu beachten und berücksichtigen sind.
Diese ”Essentials” sollen den sinnvollen Einsatz pharmazeutischen Wissens sicherstellen. Durch ihre Umsetzung und Beachtung werden auch zukünftig pharmazeutischer Sachverstand und die von ApothekerInnen geleistete qualifizierte Arzneimittelversorgung einen sicheren Platz und einen hohen Stellenwert im Gesundheitswesen einnehmen. Die Beratung ist somit unabhängig davon, auf welchem Weg Arzneimittel in Zukunft – per Versandhandel, durch Kettenapotheken oder via Internet den Weg zu den PatientInnen finden.
Uns ist bewusst, dass wir damit Gewohntes und Erreichtes in Frage stellen. Das wird bei der offiziellen Standesvertretung und vielen KollegInnen auf erhebliche Skepsis und auf Widerstand stoßen. Unsere Gesellschaft steht aber insgesamt und das Gesundheitswesen im Besonderen vor tiefgreifenden Veränderungen und Neuorientierungen, auf die wir uns einlassen und einstellen müssen.
Die Unterzeichnenden sehen in den folgenden vier ”Essentials” Grundwerte, die unabhängig von zukünftigen Entwicklungen in jedem Fall Bestand haben müssen.
- Profession geht vor Institution
- im Mittelpunkt der Berufspolitik stehen die ApothekerInnen und nicht die Apotheke - Das Arzneimittel ist ein erklärungsbedürftiges Gut
- vermittelt durch die ApothekerInnen und deren pharmazeutischen Sachverstand - Die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung umfasst mehr als die Abgabe von Arzneimitteln
- Mitverantwortung tragen für die Qualität und den Umfang des Arzneimittelangebots sowie für den Verbraucherschutz - Arzneimittelvertriebsstrukturen müssen patientengerecht sein
- der Vertrieb und die Übergabe von Arzneimitteln müssen patientenorientiert und pharmazeutisch qualifiziert erfolgen
Alle vier Punkte werden im Folgenden weiter ausgeführt.
1. Profession geht vor Institution
Nicht die private Institution Apotheke, sondern der Pharmazeut und die Pharmazeutin, ihre vielfältigen Fähigkeiten, Berufsfelder und Leistungen müssen im Mittelpunkt der Berufspolitik stehen.
Durch die Fokussierung der offiziellen Standespolitik auf die öffentliche Apotheke verliert sie viele Standesangehörige aus dem Blick. Sie verzichtet darauf, die von ApothekerInnen in anderen Bereichen des Gesundheitswesens geleistete Arbeit als Bestandteil pharmazeutischen Leistungsvermögens anzuerkennen, zu fördern und zur Profilierung des Berufsstandes zu nutzen.
Selten wird beispielsweise die Qualifikation unserer BerufskollegInnen in den Arzneimittel-Kommissionen der Krankenhäuser, in den Geschäftsleitungen kassenärztlicher Vereinigungen, in AM – Instituten, in Hochschulen, in öffentlichen Verwaltungen, in der Presse oder den Krankenkassen von der eigenen Berufsvertretung gewürdigt.
Mit der Beschränkung auf die Apotheke und ihr unmittelbares Umfeld vernachlässigen die Apothekerkammern ihre Fürsorgepflicht und berufspolitische Verantwortung für eine große Zahl von Kammerangehörige. Gleichzeitig verschenken sie eine große berufspolitische Chance, weil sie die pharmazeutische Präsenz außerhalb von Apotheken nicht zur berufspolitischen Profilierung nutzen.
Diese Missachtung spiegelt sich auch seit Jahrzehnten auf den Apothekertagen wider, die satzungsgemäß der Meinungsbildung aller ApothekerInnen dienen sollen, sich aber im Wesentlichen nur um das wirtschaftliche Wohl einer kleinen Wirtschaftselite – der etablierten selbstständigen OffizinapothekerInnen, die als GroßverdienerInnen an der Spitze der Umsatzpyramide stehen - kümmern.
Gerade mit Blick auf die Weiterentwicklung bzw. Neuorientierung bisheriger Dienstleistungsstrukturen ist es notwendig, die von ApothekerInnen erbrachten Leistungen auch außerhalb von Apotheken in ihrer Vielfalt und Breite öffentlich bewusst zu machen.
2. Das Arzneimittel ist ein erklärungsbedürftiges Gut
Die Erklärungsbedürftigkeit eines Arzneimittels ist unstrittig.
Nicht nur das Wissen und der Kenntnisstand über Arzneimittel unterliegen ständigen Veränderungen.
Auf Seiten von VerbraucherInnen und PatientInnen steigen die Ansprüche und Erwartungen.
Das schlägt sich in letzter Zeit insbesondere in den neuen Medien nieder, die je nach Interessenlage und Absicht Informationen von sehr unterschiedlicher Qualität vermitteln.
Ein besonderes Problem stellt die Selbstmedikation dar. Sie erfährt eine kontinuierliche Ausweitung – auch außerhalb von Apotheken – und erfasst zunehmend auch solche Wirkstoffe, die grundsätzlich der Verschreibungspflicht unterliegen und damit in Laienhänden ohne fachkundige objektive Beratung besonders problematisch sind. Freidosenregelung, europäische Angleichungsbemühungen und eine Aufweichung des Heilmittelwerbegesetzes bereiten dieser Entwicklung den Weg.
Solche Entwicklungen stellen für uns ApothekerInnen eine besondere Herausforderung dar. Wir müssen alles dafür tun, um den notwendigen pharmazeutischen Sachverstand in angemessener Form so zu vermitteln, dass Arzneimittelsicherheit und Verbraucherschutz optimal gewahrt werden (”Ethik vor Monetik” ).
Dabei kann nicht ausschlaggebend sein, an welchem Ort pharmazeutisches Wissen zu Arzneimitteln gegenüber PatientInnen, VerbraucherInnen und Fachkreisen vermittelt wird. Entscheidend ist, dass jeglicher Erklärungsbedarf durch pharmazeutisches Personal mit pharmazeutischem Sachverstand abgesichert und eingelöst wird.
PatientInnen und Gesundheitsinteressierte müssen erleben können, dass pharmazeutisch qualifizierte Beratung für sie eine unverzichtbare Dienstleistung darstellt.
Orte der Vermittlung können neben Apotheken beispielsweise auch Verbraucherzentralen, Gesundheitsläden, Krankenkassen, kassenärztliche Beratungsstellen, der öffentliche Gesundheitsdienst und Bildungsstätten sein. Die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Beratung machten z. B. Fortbildungsverpflichtung mit Nachweisen notwendig.
3. Die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung umfasst mehr als die Abgabe von Arzneimitteln
Heute noch ist die Apotheke der zentrale Ort, an dem Arzneimittelversorgung, -beratung und -information stattfinden. Ihre Akzeptanz und Bedeutung für die Rat Suchenden wird zukünftig im Wesentlichen durch die Qualität der in der Apotheke erbrachten persönlichen Dienstleistungen durch das pharmazeutische Personal bestimmt.
Voraussetzung für die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags, die Bevölkerung ordnungsgemäß mit Arzneimitteln zu versorgen, sind der qualifizierte pharmazeutische Sachverstand, ausreichendes pharmazeutisches Personal und entsprechende Rahmenbedingungen.
Will man die Apotheke zukünftig als unverzichtbare Einrichtung der Arzneimittelversorgung erhalten, müssen die hier erbrachten Leistungen und ihr Erscheinungsbild ausschließlich von dieser zentralen Aufgabe geprägt sein.
Wenn die unmittelbare Arzneimittelversorgung der Bevölkerung Schwerpunkt und Ausgangspunkt berufspolitischen Handels sein soll, darf das nicht dazu führen, dass wesentliche Bereiche außerhalb der Apotheke, die mittelbar oder unmittelbar Einfluss auf die Arzneimittelversorgung und deren Qualität nehmen, berufspolitisch vernachlässigt oder nachrangig behandelt werden.
Im Gegenteil: Eine vernetzte Strategie und integriertes Denken über bestehende Grenzen hinweg müssen Bestandteil der zukünftigen Entwicklung sein.
Insbesondere im Interesse des Verbraucherschutzes muss sich ein entsprechendes politisches Engagement über die Fachkreise hinaus gegenüber der Öffentlichkeit erkennbar abzeichnen. Die Berufspolitik muss sich für die Menschen nutzbringend solchen Themen zuwenden, zu denen wir uns als unabhängige Fachleute qualifiziert und kompetent äußern können.
Auf der gesundheitspolitischen Ebene betrifft das die gesamte Arzneimittel- und Heilmittelwerbegesetzgebung und ihre laufenden Novellierungen. Beispielhaft sei auf Themen oder Diskussionen zur Verständlichkeit von Packungsbeilagen, zur Einführung der Positivliste, zum Umgang mit Altarzneimitteln, zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln bei Kindern, zum grauen Markt der Nahrungsergänzungsmittel oder zur Meldequalität von UAW verwiesen.
Auf der wissenschaftlichen Ebene muss die Pharmazie Tätigkeitsfelder wie die Anwendungsforschung bei Arzneimitteln, die medikamentöse Über-, Unter- und Fehlversorgung, auf dem soziologischem bzw. sozialpharmazeutischen Gebiet Fragen zum schichtenspezifischen Konsumverhalten, zur Medikalisierung sozialer Probleme oder zu Lifestyle-Drogen aufgreifen, anregen, durchführen und aktiv begleiten. Immer mit dem Ziel, den Verbraucherschutz zu verbessern.
Es reicht nicht länger aus, anlässlich von Anhörungen, Podiumsdiskussionen oder Tagungen die Bedeutung der ApothekerInnen als Arzneimittelfachleute zu betonen und die Relevanz und Tragweite arzneimittelpolitischer Problem allein unter dem eingeschränkten Blickwinkel möglicher ökonomischer Auswirkungen auf den eigenen Berufsstand zu thematisieren.
Hier bedarf es eines neuen und anderen Verständnisses von Öffentlichkeitsarbeit, die aktiv, kontinuierlich und kritisch die Entwicklungen begleitet.
Sie sollte sich den Zielgruppen der PatientInnen, Versicherten und VerbraucherInnen zuwenden und sich deren Bedürfnissen und Ansprüchen widmen. Eine Öffentlichkeitsarbeit zum Zweck der beruflichen Selbstdarstellung drängt die oben genannten Gruppen in die Rolle passiver Zuschauer und verliert sich in Besitzstandwahrung.
Die möglichen Themen sind sehr weit und reichen von der Rolle der pharmazeutischen Industrie in Verbindung mit der Arzneimittelbehandlung AIDS-Kranker in Südafrika über Beratung bezüglich BSE und MKS bis zum jährlich erscheinenden Arzneiverordnungsreport und den Festbeträge. Wenn beispielsweise die Industrie die Laienwerbung auf verschreibungspflichtige AM ausweiten will, dann ist unsere Meinung als Arzneimittelfachleute gefragt ("Fragen Sie Ihren Apotheker/Ihre Apothekerin!").
Wir müssen uns im Interesse von PatientInnen, von VerbraucherInnen kompetent einmischen und Position beziehen.
Mit unserem Fachwissen und unseren BerufsvertreterInnen in Apotheken, Krankenhäusern, Krankenkassen, Wissenschaft, Prüfinstituten, Verwaltung, Medien oder Public Health können wir einiges erreichen, um optimale Rahmenbedingungen in der Arzneimittelversorgung und für einen verbesserten Verbraucherschutz zu schaffen.
Hier liegen große Chancen und Verpflichtungen, unsere Verantwortung und unsere Qualifikation so einzubringen, dass die von uns beanspruchte Rolle als AM-Fachmann und AM-Fachfrau für die Menschen zur täglichen unverzichtbaren Erfahrung wird.
4. Arzneimittelvertriebsstrukturen müssen patientengerecht sein
Die Zulassung von Internet-Apotheken steht auf der Agenda des Bundesgesundheitsministeriums.
Eine Expertengruppe zu E-Commerce im Arzneimittelhandel soll hier ein entsprechendes Konzept erarbeiten.
Vor allem große Apotheken und der Großhandel stellen sich bereits auf das Internet-Geschäft ein.
Auch wenn sich noch nichts Konkretes abzeichnet, lässt sich schon jetzt mit Sicherheit sagen, dass die herkömmliche Apotheke zukünftig nicht mehr der einzige Beschaffungsort für Arzneimittel sein wird.
Aus der Sicht von PatientInnen und VerbraucherInnen ist allein wichtig, dass die von ihnen benötigten Arzneimittel einfach und kurzfristig erreichbar sind.
Ihre Arzneimittelsicherheit muss gewährleistet sein und der berechtige Anspruch der PatientInnen auf umfassende individuelle Information und Beratung muss erfüllt werden können.
Bezugsquellen und Vertriebswege müssen kontrollierbar und nachvollziehbar sein und für jeden nutzbar und verfügbar, unabhängig von Bildung, Finanzkraft und Sprache.
Diese vorgenannten Kriterien sind auf jeden Fall einzuhalten, egal wie sich künftige Vertriebsstrukturen entwickeln.
Wir gehen davon aus, dass diese Anforderungen auch in der absehbarer Zukunft am besten von Apotheken erfüllt werden können.
Sie werden sich umso anhaltender und deutlicher einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung erfreuen, wie die ApothekerInnen hier in der Lage sind, Ansprüche auf eine persönliche kompetente Beratung zu erfüllen.
Dazu bedarf es nicht nur eines hohen Qualitätsniveaus in der Ausbildung. Auch die regelmäßige obligatorische Fortbildung ist notwendige Voraussetzung zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung.
Sollte es bei der Entwicklung neuer Vertriebsformen und –wege zu einer deutlichen Verringerung von Apotheken kommen mit der Folge der Gefährdung einer schnellen Erreichbarkeit Verfügbarkeit von Arzneimitteln, ist es Aufgabe der Politik zu prüfen, wie eine bedarfsgerechte und qualifizierte Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln sicher zu stellen ist.
Abgedruckt im Rundbrief 54
TERMINE
07. Oktober, online
18. November, online
VdPP-Vorstandssitzung
04. November, online
25. November, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
02. Dezember, online
02. Dezember, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
09. Dezember, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
16. Dezember, online