Sozialpharmazie - Geschichte und Zukunft
Dezember 2012
Inzwischen ist es 25 Jahre her, dass der Nestor der schwedischen Sozialpharmazie (und damit quasi der Sozialpharmazie in Europa), Lars-Einar Fryklöf (1929 - 1999), einen bemerkenswerten Artikel zur Einordnung der Sozialpharmazie in die Pharmazie in der Zeitschrift Pharmazeutische Praxis publizierte (Fryklöf, L.-E.: Zur Forschung und Ausbildung auf dem Gebiet der Sozialpharmazie – ein internationaler Überblick. In Pharm. Praxis 43 (1988), 122-125). Bemerkenswert insofern, als darin bereits damals Aspekte genannt wurden, wie mit Hilfe sozialpharmazeutischer Ausbildungsinhalte der Berufsnachwuchs fit für die Zukunft gemacht werden kann. Außerdem formulierte Fryklöf Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit der Pharmazie, die aus seiner Sicht in erster Linie durch die Aufnahme von gesellschafts- und verhaltenswissenschaftlichen Forschungs- und Lehrinhalten in die Pharmazie zu erreichen sind. Aus heutiger Perspektive – 25 Jahre nach seinen Ausführungen – wünschte man sich, dass die Verantwortlichen in der Bundesrepublik seine Hinweise ernster genommen und die Vereinigung beider deutscher Staaten dazu genutzt hätten, sozialpharmazeutische Inhalte in Lehre und Forschung innerhalb der Pharmazie zu verankern. Möglicherweise wäre es dann einfacher gewesen, den modernen Anforderungen einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung gerecht zu werden und das Image des Apothekerberufs schneller vom Erscheinungsbild eines Schubladenziehers zum Experten für ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung und -sicherheit weiterzuentwickeln.
Aus Anlass des 25-jährigen „Jubiläums“ und zur Erinnerung an den leider schon 1999 verstorbenen Lars-Einar Fryklöf sollen im Folgenden Teil dieses Artikels aus dem Jahr 1988 zitiert werden. Er wurde seinerzeit in einer pharmazeutischen Fachzeitschrift der DDR veröffentlicht und war insofern für westdeutsche Interessenten kaum verfügbar.
Gedanken zur heutigen Situation
Die Ausübung des Berufes als Apothekerin oder Apotheker findet in einem sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umfeld statt. So-wohl der Umgang mit Menschen in der Apotheke, als auch die Beschäftigung mit dem Vertrieb oder mit der Herstellung, Kontrolle oder Administration von Arzneimitteln bis zur Forschung, die heute fast immer mindestens zum Teil drittmittelfinanziert ist, beruhen auf Rahmenbedingungen, die die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft vorgeben. Besonders interessant sind die rechtlichen Vorgaben für den Arzneimittelmarkt und die Arzneimittelversorgung, die unterschiedlichen Interessen der Akteure sowie die spezifischen gewachsenen Therapien und Einnahmegewohnheiten der Menschen.
Wer als junger Mensch in den Apothekerberuf eintritt, ist wie vor dreißig oder fünfzig Jahren mit den Rahmenbedingungen in der Regel nicht vertraut. Sie oder er kann nur einen Sonderweg gehen, um zu erfahren, warum alles so ist, wie es ist und unter welchen Bedingungen Verbesserungen möglich sind. Die große Mehrheit der Absolventen wird diese ungewöhnlichen Fragen als sonderlich empfinden, werden doch solche Themen im Studium und im praktischen Jahr fast gar nicht aufgegriffen. Das ist übrigens bei vielen anderen ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Fächern nicht viel anders. Eine Ausnahme ist gewissermaßen die Medizin, die sich trotz ihres Bekenntnisses zur naturwissenschaftlich begründeten Schulmedizin das Fach Sozialmedizin leistet. Mit der staatlichen Anerkennung dieses Faches innerhalb der Approbationsordnung sowie mit der gesellschaftlich anerkannten Finanzierung von Forschungs- und Lehrkapazitäten in der Sozialmedizin stellt sich bei den jungen Medizinerinnen und Medizinern sehr viel eher die Frage, ob ein Berufsweg im Fach Sozialmedizin denkbar ist.
Lars-Einar Fryklöf: Zur Forschung und Ausbildung auf dem Gebiet der Sozialparmazie—ein internationaler Überblick - Ausschnitte
„Sozialpharmazie bezieht sich … auf die Relationen und das Zusammenspiel zwischen dem Patienten und dem Arzneimittel, zwischen dem Pharmazeuten und dem Patienten und zwischen dem Arzneimittelversorgungssystem und dem Gesundheitswesen sowie der Gesellschaft als Ganzes. …
Als ich meine Studien in den 40er Jahren begann, umfasste der Unterricht und die Forschung an der pharmazeutischen Fakultät in Schweden hauptsächlich Themen mit chemischer und pharmazeutisch-technologischer Richtung. In den 60er Jahren wurden mehr biologisch eingestellte Wissenschaften wie z. B. Pharmakologie, Biopharmazie, Biochemie und Pharmakokinetik eingeführt. Gleichzeitig nahm bei einem Teil der älteren Themen die Bedeutung ab. In den letzten 10 Jahren sind Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften in einem bestimmten Umfang in die pharmazeutische Grundausbildung und in die Forschung eingeführt worden. In Schweden, wie auch in vielen anderen Ländern, werden diese Wissenschaften jedoch immer noch als wenig bedeutungsvoll für den pharmazeutischen Beruf betrachtet. Mit meinem Vortrag möchte ich darauf hinweisen, dass die „Sozialpharmazie“ einen bedeutenden Einfluss auf die Zukunft der Pharmazie hat.
Die Kenntnisbasis Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften verdient die gleiche Aufmerksamkeit wie die chemischen, technologischen und biologischen Kenntnisse. Das gilt für die Apotheker der ambulanten Apotheken ebenso wie für die Krankenhaus- und Industriepharmazeuten.
Ein Bild über die Bedeutung der Verschiebung in den drei Teilen der Kenntnisbasis erhält man, wenn wir uns die Fragen anschauen, die das größte Interesse der Arzneimittelkontrollbehörden hatten. Bis zu den 50er Jahren galt das Interesse in 1. Linie der chemischen Standardisierung der Arzneimittel; ihre Stärke, Reinheit usw. In den 60er Jahren, speziell nach der Thalidomid-Katastrophe, traten die therapeutische Sicherheit und der Effekt, d. h. die biomedizinischen Aspekte, in den Blickpunkt. Und jetzt, in den 80er Jahren, werden die ökonomischen Aspekte, d. h. die Arzneimittelkosten, Kosten-Nutzen-Verhältnis (cost benefit ratio) usw. am meisten diskutiert.
Allerdings haben die Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften bisher kaum innerhalb der pharmazeutischen Ausbildung Anerkennung gefunden. … Schließlich – und dies ist heute unser hauptsächliches Interesse – sehen wir, dass sich nur fünf Prozent der Studienzeit auf die gesellschaftlichen, ökonomischen und anderen Zusammenhänge beziehen, in denen die Pharmazie ausgeübt wird. …
In den meisten Ländern ist „Sozialpharmazie“ kein selbständiges Lehr- und Forschungsfach. In Ost- und Nordeuropa sowie in Holland, Belgien und Großbritannien hat es sich an den Universitäten etabliert. Es ist jedoch nicht in der BRD, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Italien, Spanien, Portugal usw. vorhanden.
Außerhalb von Europa findet man das Fach in Kanada, Australien, Japan und in den Vereinigten Staaten, wo ich meine, dass das Fach am weitesten entwickelt ist.
Betrachten wir den geringen Anteil von 5 % an der Studienzeit, muss man sich fragen, weshalb die Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften eine derart schwache Stellung in der pharmazeutischen Grundausbildung und demzufolge auch in der pharmazeutischen Forschung einnehmen.
Benötigen wir wirklich keine Kenntnisbasis von Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften in der Pharmazie?
Wenn wir die Probleme betrachten, die heute im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft debattiert werden, so beziehen sie sich nur zu einem geringen Teil auf chemische und biologische Eigenschaften der Arzneimittel sowie auf die Technologie der Arzneimittelherstellung. Viel häufiger werden die gesellschaftlichen, ökonomischen und verhaltenswissenschaftlichen Aspekte diskutiert.
Ich möchte hier nur einige wenige Beispiele zeigen, mit denen wir wohl vertraut sind.
1. Die mangelnde Folgsamkeit (non-compliance) der Patienten zu der Arzneimittelordination des Arztes.
Wenn die Pharmazie und die Pharmazeuten dazu beitragen sollen, dieses Problem lösen zu helfen, so brauchen sie nicht nur Pharmakokinetik oder analytische Chemie. Sie brauchen auch die Ausbildung, Erfahrung und Forschung in den gesellschafts- und verhaltenswissenschaftlichen Fächern.
Dies bedeutet nicht, dass man ohne gründliche Kenntnisse über das Produkt und dessen Eigenschaften sein kann. Aber in der neuen Situation braucht man auch neue Kenntnisse. Diese Kenntnisse werden das Vermögen zur Problemlösung erhöhen und sie werden auch ein erhöhtes Kontaktniveau mit der Umgebung bedeuten.
2. Der nächste Faktor, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit richten möchte, ist der ökonomische.
Die Kosten für die Gesundheits- und Krankenbetreuung sind in den letzten Jahren kräftig gestiegen, viel schneller als die Ökonomie im Ganzen. Es ist jedoch klar, dass die Kostenexpansion in der medizinischen Betreuung von der heutigen ökonomischen Situation gebremst wird. Als Folge wurden eine Reihe von kostenverringernden Maßnahmen durchgeführt. Das Problem der Kostenverringerung wird besonders groß, wenn es darum geht, die Einführung therapeutischer Fortschritte in einem begrenzten finanziellen Rahmen zu ermöglichen. In den westlichen Ländern haben wir einen starken Druck zur Kosteneinsparung bei Arzneimitteln erlebt, obwohl diese meist weniger als 10 % der medizinischen Betreuungskosten ausmachen. Hier müssen die Pharmazeuten die Fähigkeit haben, die pharmazeutischen Dienstleistungen so zu entwickeln, dass sie sich der ökonomischen Situation anpassen. Sie müssen kosteneffektiver als konkurrierende, alternative Maßnahmen sein. Man findet in den pharmazeutischen Lehrplänen aber nichts darüber, wie man die Kosteneffektivität der Arzneimittel und das Kosten-Nutzen-Verhältnis messen soll.
3. Die Arzneimittelinformation ist ein sehr aktuelles und wichtiges Fach.
Information setzt voraus, dass man Kenntnisse über die chemischen und biologischen Eigenschaften der Arzneimittel besitzt. Diese Kenntnis ist jedoch wertlos, wenn man sein Können dem Patienten nicht überbringen kann. Letzteres setzt eben gleichzeitig genügend Kenntnisse und Erfahrungen über die verhaltenswissenschaftlichen Aspekte des Kommunikationsprozesses voraus.
Das hier Gesagte ist Ausdruck für neue Entwicklungslinien in der Gesundheits- und Krankenbetreuung und ein Zeichen neuer Forderungen, die an die Pharmazie gestellt werden. Diese neuen Forderungen können auf eine neue Menschenauffassung, ein neues Gesundheitsmuster und eine ökonomische und politische Beeinflussung der Gesellschaft zurückgeführt werden. Diese Forderungen sind eigentlich nicht neu. Sie sind seit mehreren Jahren bekannt. Ihr Bedeutung und Auswirkung auf die Pharmazie sind jedoch begrenzt gewesen. Der Einfluss auf die pharmazeutische Ausbildung war bisher gleich null.
Was die Menschenauffassung betrifft, so müssen wir den Patienten nicht mehr als ein Objekt für unsere Fürsorge, sondern als ein mitwirkendes und beschlussfähiges Subjekt betrachten. Die alte atomistische Auffassung ist durch eine holistische Menschenauffassung ersetzt worden und die mechanistische Auffassung zur Wiederherstellung der Gesundheit ist durch eine mehr humanistische Auffassung ersetzt worden. All dies hat zu einem neuen Gesundheitsmuster geführt, das sich in allen entwickelten Ländern durchsetzt. Es unterstreicht die Verantwortung des Individuums für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden.
Daraus leitet sich auch das Recht des Individuums ab, notwendige Informationen zu erhalten und Entscheidungen bezüglich der Maßnahmen zu treffen, um die Gesundheit zu bewahren und Krankheiten zu heilen. Das bedeutet eine Schwerpunktverschiebung von institutioneller und professioneller Pflege zur Eigenpflege; die Verschiebung in der Pflegeauffassung von Krankheitsorientierung auf Gesundheitsorientierung sowie Orientierung von der Therapie auf die Prophylaxe. Für die Wirksamkeit der Pharmazie wird dies folgende entscheidende Veränderungen beinhalten; nämlich weniger Produktorientierung und mehr Konsumenten- und Patientenorientierung. Man wird – relativ gesehen – dem Arzneimittel weniger Aufmerksamkeit widmen. Die Hauptaktivitäten müssen die Beziehungen zwischen Apotheke und dem Kunden beinhalten und als Information, Kommunikation und Service fokussiert sein.
Wir dürfen auch nicht die neue WHO-Definition der Gesundheit vergessen. Gesundheit ist ein Zustand, der nicht nur physisches, sondern auch psychisches und soziales Wohlbefinden bedeutet. Was bedeutet das für uns? Wie bereits angedeutet, werden wir einen stärkeren ökonomischen Druck von der Gesellschaft spüren, der unsere Aufmerksamkeit auf rationelle Arzneimittelverwendung und Kostenbegrenzung richten wird. Das Problem der Arzneimittel wird sich weiter auf mangelnde Folgsamkeit, fehlerhafte Verwendung und Missbrauch, Inhalt, Organisation und Technologie der Information, die Rolle der Arzneimittel im Krankenpflegesystem usw. beziehen. Um diesen neuen Forderungen entgegen zu kommen, müssen wir die Kenntnisbasis in Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften sowie in ökonomischer und administrativer Wissenschaft haben. Sie wird als neue Dimension zur pharmazeutischen Kenntnisbasis mit den traditionellen chemischen und biologischen Kenntnissen hinzukommen.“
Der erste Teil dieses Beitrags von Udo Puteanus ist im VdPP-Rundbrief Nr. 84 (12/2012) abgedruckt.
Die Gesundheit der Bevölkerung war und ist, früher wie heute, eine wichtige Grundlage für die Stärke eines Landes. Waren es früher in erster Linie gesunde, kräftige junge Männer, auf die sich die Macht eines Staates über ein schlagkräftiges Heer stützen konnte, sind es heute gesunde, gut ausgebildete, arbeitswillige, kreative und diszipliniert arbeitende Frauen und Männer, die für den Wohlstand notwendig sind. Um dorthin zu kommen, ist das Thema Gesundheit der Bevölkerung ein prinzipiell wichtiges Thema. Das sehen allerdings nicht alle politisch Verantwortlichen so, zumindest immer dann, wenn dies Geld kostet. Denn das muss irgendwoher kommen. Einige der politisch Verantwortlichen haben aber die Bedeutung von Gesundheit erkannt und darauf eine Gesundheitspolitik aufgebaut, wenn man sie ließ. Dazu waren auch Mediziner notwendig, die das Leid der Menschen sahen und Erklärungen dafür suchten und manchmal auch fanden. Nicht selten aber waren es aufgrund der politischen Verhältnisse weniger die Politiker, sondern eher die über den Tellerrand schauenden Mediziner, die eine Gesundheitspolitik einforderten, weil sie erkannten, dass Gesundheit der Bevölkerung ohne eine auf Gesundheit fokussierte Politik nicht möglich ist. Ein herausragendes Beispiel war der weit bekannte Mediziner Rudolf Virchow im 19. Jahrhundert. Es folgten viele andere, und in den zwanziger Jahren hatte die damals als Sozialhygiene bezeichnete sozialmedizinische Forschung und Praxis in der Weimarer Republik international eine führende Stellung erreicht.
Mit der Pervertierung der Sozialhygiene zur Rassenhygiene durch die Nationalsozialisten, mit der Vertreibung und Ermordung der führenden Köpfe der Sozialhygiene und mit der Vernichtung des sozialhygienischen Potenzials in Deutschland standen nach Kriegsende bevölkerungsorientierte Ansätze einer Gesundheitspolitik in Westdeutschland zunächst vor dem Nichts. Weder waren die Fachleute da, die an die Zeit vor 1933 anknüpfen konnten, noch wurden bevölkerungsbezogene Ansätze in der Gesundheitspolitik mehrheitsfähig, weil gerade der bevölkerungsbezogene Ansatz durch eine auf Rassenideologie fußende „Volksgesundheit“ letztendlich zur Vernichtung von Millionen von Menschen geführt hatte. Zudem nutzten die Interessenvertreter der niedergelassenen Ärzte sowie die Vertreter eines liberalen Gesundheitsmarktes die Gunst der Stunde der Nachkriegszeit, um das heutige Kassenarztrecht zu festigen und bevölkerungspolitische Ansätze zu verhindern. Der Niedergang des öffentlichen Gesundheitsdienstes in dieser Zeit und bis heute ist ein Zeichen dieser Politik. Der Sozialmedizin gelang es jedoch, auf einem wenn auch niedrigen Niveau in der Bundesrepublik zu überleben.
Es dauerte bis in die 1980er Jahre, bis man in der Bundesrepublik erkannte, dass bevölkerungsbezogene Gesundheitsforschung, -politik und -praxis Experten auf verschiedenen Ebenen gebraucht wird, damit das Potenzial vorhanden ist, die Grundlagen zu schaffen, den Gesundheitszustand der Bevölkerung korrekt zu erfassen und Determinanten von Gesundheit zu beeinflussen. Ein Blick auf die internationale Public-Health-Szene führte den Verantwortlichen schonungslos vor Augen, dass sich die Bundesrepublik auf diesem Gebiet auf dem Stand eines Entwicklungslandes befand. Der staatlich finanzierte Aufbau von Public-Health-Forschungs- und Lehreinrichtungen war die Folge. Es wurden an verschiedenen Universitäten Stellen geschaffen und Forschungsmittel zur Verfügung gestellt, um den internationalen Rückstand aufzuholen, die Versorgungsforschung zu etablieren und Prävention und Gesundheitsförderung voranzubringen. Nicht zuletzt waren die „alternative“ Gesundheitsbewegung Anfang der achtziger Jahre und die Frauenbewegung sowie die in der sog. „Ottawa-Charta“ sich kristallisierende neue Strategie zu Prävention und Gesundheitsförderung wesentliche Promotoren. Inzwischen sind die Mittel allerdings schon wieder zurückgefahren worden. Die Befürchtung, dass in Zukunft unter dem Stichwort Prävention eher biomedizinische oder medizintechnologische Ansätze bevorzugt und sozialwissenschaftliche, psychologische oder gesundheitspolitische Ansätze vernachlässigt werden, hat es inzwischen notwendig gemacht, dass sich die deutschen Vertreter von Public Health mit einer ausführlichen Stellungnahme zu Wort gemeldet haben (Gerlinger T, Babitsch B et al: Situation und Perspektiven von Public Health in Deutschland – Forschung und Lehre. In: Das Gesundheitswesen 74 (2012), 762 ff.).
Mit dem Aufbaustudiengang Public Health haben auch die Pharmazeutinnen und Pharmazeuten die Gelegenheit, ihr naturwissenschaftliches Wissen um sozialwissenschaftliche, psychologische, epidemiologische, ökonomische und politische Aspekte von Gesundheit zu ergänzen. Eine direkte Verbindung dorthin während des Studiums, wie die Sozialmedizin innerhalb der Medizin, steht aber den Pharmazeutinnen und Pharmazeuten weiterhin nicht zur Verfügung.
Bis zur Einführung der Klinischen Pharmazie als neues Forschungs- und Lehrfach in der Pharmazie wurden allenfalls im Fach Pharmaziegeschichte soziale, kulturelle und/oder gesellschaftspolitische Themen angesprochen. Ansonsten war und ist Pharmazie ein rein naturwissenschaftliches Fach. Mit Aufnahme der Klinischen Pharmazie in das Curriculum der Pharmazie kann dies in Zukunft möglicherweise etwas anders werden. Darauf verweisen erste Forschungsergebnisse der Klinischen Pharmazie zur Versorgungsforschung oder die Stellungnahme der Fachgruppe Klinische Pharmazie der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft aus dem Jahr 2010 (Pharmazeutische Zeitung, 155. Jg., Nr. 34, Seite 3128 f.)
Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland ist Sozialpharmazie als eigenes Fach in anderen Ländern präsent. So verfügen bspw. die nordeuropäischen Länder wie auch die meisten angelsächsischen Länder über Forschungs- und Lehreinrichtungen für Sozialpharmazie an den universitären pharmazeutischen Instituten. Darüber hinaus finden sich Forschungsaktivitäten in vielen Ländern der Welt, die alle zwei Jahre auf dem International Social Pharmacy Workshop vorgestellt und diskutiert werden
(http://www.pharmacypractice.org/vol08/supp1/toc.htm.)
Deshalb bleibt festzuhalten, auf internationaler Ebene ist Sozialpharmazie ein etabliertes Fach innerhalb der Pharmazie, während in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in manch anderen Ländern, wie z. B. Frankreich oder Österreich, Vergleichbares höchstens in Ansätzen vorhanden ist.
Setzt man den Bereich Sozialpharmazie im internationalen Kontext in Beziehung zu allen pharmazeutischen Wissenschaften, so lässt sich allerdings festhalten, dass es sich bei Sozialpharmazie immer noch um einen relativ neuen Arbeitsbereich handelt, der sich in Konkurrenz zu den anderen Bereichen wie Pharmazeutische Chemie, Pharmazeutische Analytik, Pharmazeutische Technologie, Klinische Pharmazie und Pharmazeutische Biologie behaupten muss. Während dies in einigen Ländern schon gut gelungen scheint, tun sich andere Länder schwer damit.
Zu Beginn der Sozialpharmazie in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts existierte im Wesentlichen nur eine internationale Zeitschrift für Sozialpharmazie: „Journal of Social and administrative Pharmacy“, herausgegeben von der schwedischen Apothekersozietät. Inzwischen wurde die Zeitschrift aus finanziellen Gründen eingestellt. Gleichzeitig entstanden aber andere englischsprachige Zeitschriften wie z. B. „Research in Social and administrative Pharmacy“, „Phar-macy Practice“, „International Journal of Pharmacy Practice“ oder „Journal of Pharmacy Practice“.
Themen der Sozialpharmazie werden auch in (internationalen) Zeitschriften der Pharmakoepidemiologie, der Arzneimittelsicherheit, der Arzneimittelepidemiologie und der Versorgungsforschung bearbeitet. Weiterhin beschäftigen sich u. a. Ökonomen, Psychologen, Soziologen oder Juristen mit Arzneimittelversorgungsfragen.
Auch die Medizinerinnen und Mediziner haben die Bedeutung der Arzneimitteltherapie und –versorgung sowie ihrer Qualitätssicherung festgestellt und kümmern sich bspw. in wissenschaftlichen Instituten für Allgemeinmedizin um Optimierungen. Pharmazeutinnen und Pharmazeuten werden dabei nur selten eingebunden. Ihnen fehlen ja in der Regel auch die Grundlagen dazu. Man muss als junge Pharmazeutin oder junger Pharmazeut schon ganz genau hinschauen, wo man sich wissenschaftlich mit solchen Fragestellungen aus den Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften beschäftigen kann.
Die wenigen Einrichtungen, die Pharmazeutinnen und Pharmazeuten nach dem Studium wissenschaftlich auf den Arbeitsgebieten mit sozialpharmazeutischen Inhalten in der Bundesrepublik unterstützen, wie bspw. das Zentrum für Sozialpolitik in Bremen, das Arbeitsfeld Consumer Health Care in Berlin oder die PMV-Forschungs-gruppe in Köln sowie einzelne Public-Health Aufbaustudiengänge muss man sich als Pharmazieabsolvent selbst erst einmal suchen. Um das Suchen nach einer solchen Alternative überhaupt in Erwägung zu ziehen, muss man allerdings schon besonders viel Engagement zeigen. Denn neben dem wahrlich nicht einfachen Studium Pharmazie den Kopf frei zu haben für ein bewusstes Suchen in einem ganz anderen Wissenschaftsbereich, dazu bedarf es schon besonderer Anstrengungen und meist auch einer besonderen Prägung. Da haben es die Mediziner einfacher, die im Rahmen ihres normalen Studiums über die Sozialmedizin mit diesen Themen konfrontiert werden. Zugegeben, auch die Sozialmedizin ist nur ein Randthema innerhalb der Medizin, aber mit der Existenz sozialmedizinischer Lehrstühle ist zumindest ein Anfang gemacht. Ob innerhalb der Pharmazie das Fach Klinische Pharmazie hier ausreichend einspringen kann, kann bezweifelt werden. Zumindest zum derzeitigen Zeitpunkt findet sich nur vereinzelt eine Publikation, die in anderen Ländern der Sozialpharmazie zugeordnet werden könnte. Offensichtlich können oder wollen die Vertreterinnen und Vertreter der Klinischen Pharmazie keine allzu großen Schritte wagen. Zu groß scheint die Befürchtung zu sein, damit innerhalb der Naturwissenschaft Pharmazie im Abseits zu stehen mit der Folge, auf Personalstellen und Drittmittel verzichten zu müssen.
Was ist zu tun? Auf absehbare Zeit ist nicht damit zu rechnen, dass Sozialpharmazie innerhalb der Pharmazie in der Bundesrepublik Deutschland etabliert wird, zumal auch der internationale Druck auf die deutsche Pharmazie nicht zu erkennen ist. Einzelne Inhalte werden in der Klinischen Pharmazie aufgegriffen werden, doch wird es mittelfristig dem Einzelnen überlassen bleiben, zu suchen, wo sozialwissenschaftliche, psychologische oder kulturelle Fragestellungen rund um Pharmazie und die Arzneimittel bearbeitet werden. Umso wichtiger ist es, über die wenigen Kristallisationspunkte und deren Arbeit zu berichten, um die Chance zu erhöhen, den interessierten Nachwuchs anzusprechen. Wenn schon das Fach Sozialpharmazie dem Studierenden nicht begegnet, so sollte zumindest Hilfe geleistet werden, die wenigen Weiterbildungs- oder Arbeitsangebote in diesem Bereich bekannt zu machen. In diesem Sinne sollte zunächst aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums des programmatischen Artikels von Lars Einar Fryklöf an die Gründungsphase dieses Faches erinnert werden.
Udo Puteanus
In zwei Teilen erschienen in VdPP Rundbrief Nr. 84 und 85
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VdPP-Vorstandssitzung
04. November, online
25. November, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
02. Dezember, online
02. Dezember, online
VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
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VdPP-BPhD-Seminarreihe zu "Pharmazie und Planetary Health"
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