Griechenland ist mehr als ein Krisenland
Seit über einem Jahr gibt es viele negative Schlagzeilen. Doch steht es um die Gesundheitsversorgung im Land wirklich so schlecht? Und wie könnte es vorwärtsgehen? Der Beitrag eines Zugezogenen.
Dezember 2012
In Griechenland begrüßt man sich mit „ti kanis?“ (τι κάνεις; frei übersetzt: wie geht`s?). Die Antwort lautet fast immer „kala, ke esi?“ (καλά, και εσύ; gut, und dir?). Da es sich um ein Begrüßungsritual handelt, erwartet kaum jemand eine Aussage über das tatsächliche Befinden. Um so erstaunter war ich, als bei meinem letzten Aufenthalt bis Mitte Juni 2012 „mein“ Gemüsehändler in der kretischen Kreisstadt Moires mit einem unüblichen „nicht gut“ antwortete. Er fügte an, das Geschäft liefe schlecht, die Kundenzahl sei zurückgegangen, die Aussichten trüb. Dass es ihm nicht allein so geht, zeichnet sich überall im Stadtbild von Moires ab: Es gibt eine größere Anzahl leergeräumter Ladenlokale mit der Aufschrift „Enoikia-zetai“ (ενοικιάζεται, es wird vermietet). Noch zahlreicher zeigt sich der Geschäftsverfall in der Inselhauptstadt Heraklion. Die tiefe wirtschaftliche Rezession hinterlässt ihre deutlichen Spuren.
Fast alles war für die Versicherten kostenlos
Für den Ausländer nicht auf den ersten Blick sichtbar, leidet auch das Gesundheitswesen ganz erheblich unter der Last der Krise. Überschriften wie „Griechenland kann seine Patienten nicht mehr versorgen. Medikamente fehlen, OPs fallen aus“ (Zeit online, 11.06.12) machten bei uns Schlagzeilen. Da die Quelle dpa war, haben natürlich auch andere Zeitungen das Thema aufgegriffen. Unisono berichteten sie davon, dass es sogar an Kathetern, Einmalhandschuhen und Klopapier mangele. Dabei war das staatliche Gesundheitswesen für ein Land mit einer solch geringen Wirtschaftskraft eher vorbildlich.
Ich selbst musste in einem (vermuteten) Notfall das Ambulatorium der Kreisstadt Moires mitten in der Nacht aufsuchen. Ich war dort keineswegs der einzige Patient, musste dennoch nicht lange warten und wurde nach einigen Untersuchungen mit der Empfehlung entlassen, einen gründlichen Check im staatlichen Krankenhaus der Hauptstadt vornehmen zu lassen. Das alles kostete mich keinen Cent. Erst in Heraklion verlangte man von mir die Krankenversicherungskarte, die man dort ohne Schwierigkeiten einlesen und so mit meiner deutschen Krankenkasse abrechnen konnte. Ein echter Fortschritt!
Im staatlichen Gesundheitswesen war der Kostenträger für Griechen bislang die sogenannte IKA (Idrima Kinonikon Asfaliseon, Ίδρυμα Κοινωνικών Ασφαλίσεων,Sozialversicherungsanstalt). Als Patient konnte man sich auf der IKA-Liste einen Arzt oder eine Ärztin seiner Wahl frei aussuchen. Eine Überweisung war nicht nötig. Die IKA übernahm auch die Kosten für zahnärztliche Behandlung, für Rollstühle, Prothesen, Hörgeräte und weitere medizinische Hilfsmittel, sofern ein ärztliches Gutachten vorlag. Das alles war für die Versicherten kostenlos, lediglich bei verschreibungspflichtigen Medikamenten war eine Zuzahlung von 25 % zu entrichten („Das Gesundheitssystem in Griechenland“ AOK-Bundesverband http://www.aok-bv.de/politik/europa/index_01354.html).
Auch die Finanzierung war durchaus im Sinne der abhängig Beschäftigten und unter diesen sozial ausgestaltet. So gab es z. B. für diejenigen, die seit dem 1.1.1993 beschäftigt sind, keine Beitragsbemessungsgrenze mehr. Das heißt, wer gut verdiente, hatte auch (linear) mehr in den Gesamttopf einzuzahlen. Die Beiträge der Arbeitgeber machten 5,1 % und die der Arbeitnehmer 2,55 % des Bruttoverdienstes aus, eine Aufteilung, von der deutsche Arbeitnehmer nur träumen konnten.
Vorsichtshalber habe ich die Vergangenheitsform gewählt, da die von außen auferlegten „Reformen“ möglicherweise bereits Veränderungen, d. h. Verschlechterungen bewirkt haben könnten. Eine dieser Veränderungen, ob nun neutral oder nicht, ist die Schaffung eines neuen Dachverbandes mit dem klingenden Namen EOPYY (Ethnikos Organismos Parochis Ipiresion Ijias, Εθνικός Οργανισμός Παροχής Υπηρεσιών Υγείας, Nationale Organisation für die Erbringer von Gesundheitsdienstleistungen), in dem die IKA aufgegangen ist, und der nun als übergeordneter Kostenträger fungiert. Leider war eine der ersten Erfahrungen mit dem neu benannten Verband seine baldige Zahlungsunfähigkeit. Ein Grund dafür ist die eigentlich gut gemeinte Absicht, die Beitragssätze stabil zu halten, während die Kosten wie fast überall im Gesundheitswesen kontinuierlich stiegen. Vor der Zuspitzung der Krise wurden die Defizite durch staatliche Zuschüsse ausgeglichen. Wäre ein Weg gefunden worden, die enorme Kapitalflucht aus dem Land zu verhindern, hätte man vielleicht weiterhin subventionieren können. Dass dies nun nicht mehr möglich ist, liegt auf der Hand.
Die Folge ist, um nur bei dem uns vertrauten Apothekenwesen zu bleiben, dass die Versicherungskasse den Apotheken für gelieferte Medikamente im Monat Mai 117 Millionen, für den Juni 145 Millionen Euro schuldet. Die Apotheker und Apothekerinnen sind daraufhin dazu übergegangen, in 14 griechischen Präfekturen, darunter auch einigen auf Kreta, Medikamente nur noch gegen Bargeld herauszugeben (Griechenland Zeitung, 18.8.12). Eine verständliche Maßnahme, um den eigenen Ruin abzuwenden, aber letztlich nur eine Verschiebung auf andere Bevölkerungsteile, die als Geringverdiener oder Rentner kaum wissen, wie sie dies alles bezahlen sollen. Es lässt sich hier im „Kleinen“ ablesen, wie in der einmal eingetretenen Rezession die Abwärtsspirale immer weiter an Fahrt gewinnt, solange kein wirklicher Neuanfang mit einer deutlichen Wirtschaftbelebung in Angriff genommen wird. Um die Dimension der Kürzungen wenigstens in zwei Zahlen zu fassen: die Gesundheitsausgaben beliefen sich in Griechenland im Jahr 2009 auf 22,5 Milliarden Euro, für 2012 wird ein Betrag von 13,5 Milliarden prognostiziert, also nur noch etwas mehr als die Hälfte („Im Koma“, Tagesspiegel online, 27.7.12).
Wie reagieren nun die Griechen politisch auf die verordnete Austeritätspolitik, d. h. die Kürzungen bei Einkommen, Renten und Sozialleistungen, auf den Riesenverlust an Kaufkraft? An die Bilder von wütenden Demonstrationen oder die Großtransparente des KKE (KP) an der Akropolis muss ich nicht erinnern. Die Wahlen vom 6.5.2012 brachten einen Erdrutsch, es herrschte eine kurze Aufbruchstimmung und man hätte den Reinigungsprozess, allerdings in Konfrontation zum Merkel-Europa, beginnen können. Ein mir befreundeter griechischer Architekt, der nach eigener Auskunft früher das KKE, später das PASOK (Sozialdemokraten) gewählt hatte, freute sich nun über den kometenhaften Aufstieg des Linksbündnisses SYRIZA, das aus dem Stand von vorher unbedeutenden 4 % auf 16,7 % gekommen war, wobei es das PASOK hinter sich ließ. Wie bekannt war aber die Mandatsverteilung so (die stärkste Partei, hier knapp die Nea Dimokratia = griechische CDU, bekam einen Bonus von 50 Abgeordneten), dass eine Regierungsbildung, die eine Linke hätte sein können, nicht möglich war.
Die Folgewahl vom 17.6.2012 brachte eine Polarisierung. Rechte und Ängstliche sammelten sich unter der Nea Dimokratia, die auf 29;7% kam; die Linkswähler stärkten noch einmal den SYRIZA mit 26,9% der Stimmen – auf Kosten von PASOK und KKE. Unter dem Eindruck der Mehrheit der ND-Stimmen atmete das übrige Europa auf. Mit einer Koalition der „nationalen Rettung“ aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und der kleinen Demokratischen Linken (DIMAR), hoffte man die „Reformen“, also weitere Sozialeinschnitte ohne erhebliche Gegenwehr noch einmal verschärfen zu können. Für das traditionsreiche PASOK ist das ein Spiel mit dem Feuer, scheitert die Regierung, wird es zu einer unbedeutenden Randpartei.
Die eigentliche Wirtschaftpolitik ist nicht mein Fachgebiet, sich im Labyrinth der ständig wechselnden Kürzel wie EFSF, ESM oder EFSM, die alle kurz- oder mittelfristige Euro-Rettungskonzepte beinhalten, zurechtzufinden, erfordert schon ein hohes Maß an Konzentration. Darüber, was innerhalb und außerhalb Griechenlands zu welchem Zeitpunkt anders und besser hätte gemacht werden können, kann man durchaus kontrovers diskutieren. Die Gegenwart verlangt aber eine eindeutige Stellungnahme.
Sicherlich sind in Griechenland erhebliche Fehler gemacht worden. Dazu gehört auch das System der Patronage, dessen Traditionslinien in Ländern wie Griechenland und Italien bis in die Antike zurückreichen. Paradoxerweise erwartet man nun aber von der Koalition der „Moderaten“ ND, PASOK (und der unbedeutenden DIMAR) die Heilung der Krankheit, die die beiden erstgenannten im schönen Wechsel als Regierungspartei mit zu verantworten haben, und die als einzige überhaupt die Möglichkeit hatten, Posten und Begünstigungen gegen Stimmenzusagen zu verteilen.
Und wie soll es weitergehen? Was bringt es denn, immer neue Kredite in Aussicht zu stellen oder zu gewähren, die nur dazu dienen, die alten mit ihren durch Ratingagenturen und Kreditausfallversicherungen in schwindelnde Höhe getriebenen Zinsen abzulösen? Kredite sind keine Geschenke, obendrein müssen sie mit entwürdigender Bittstellerhaltung und „Reformen“ erkauft werden, die nichts anderes sind als ein neoliberaler Kahlschlag.
Das, was vor allem die Regierung Merkel heute Griechenland vorschreiben möchte, nämlich mit Brachialgewalt das Haushaltsdefizit abzubauen, daran hat sich Deutschland in der Vergangenheit dann selbst nicht gehalten, wenn es dem eigenen Vorteil diente. Erinnert sei an den viermaligen Bruch des Stabilitätspaktes in den Jahren zwischen 2002 und 2005 (ohne das fällige Strafverfahren der EU) oder an die staatliche Abwrackprämie für Altwagen von 2009, die in Zeiten der Krise den Automobilabsatz förderte. Deutschland profitiert heute sogar vom spekulativen Angriff auf südeuropäische Länder, denn solange der Süden schwankt, erscheint es sogenannten Anlegern als „sicherer Hafen“, der sich Geld praktisch zinslos beschaffen kann („Die Schmarotzer aus dem Club Med“, Der Freitag Online, 10.08.12).
Eine einfache Wahrheit ist in den vergangenen Jahren allerdings offenbar geworden: Bei der Hilfe für angeschlagene Privatbanken gab und gibt es keine Hemmschwelle, während bei ganzen Staatswesen ein „Eiertanz“ aufgeführt wird, der von ständig wechselnden Parolen begleitet wird: einmal „fällt der Euro, wenn Griechenland fällt“, dann wieder möchte man den Griechen möglichst schnell die Ausgangstür weisen.
Man muss kein Wirtschaftsstudium absolviert haben, um überdeutlich zu erkennen, dass eine Erholung der griechischen Wirtschaft nur über eine Stärkung der Kaufkraft und damit Belebung der Binnennachfrage erfolgen kann. Griechenland ist kein typisches Exportland. Zu den wenigen Gütern, die Griechenland dem Ausland anbieten kann, gehört neben Olivenöl, mit dem es aber in erbitterter Konkurrenz zu anderen Mittelmeerländern steht, der Tourismus, der wiederum auf Krisen sehr anfällig reagiert und einbricht, auch und besonders durch die Angst potentieller deutscher Feriengäste vor Chaos und „Feindseligkeiten“. Andersherum ausgedrückt, die Austeritätspolitik ist kontraproduktiv und beschleunigt nur den griechischen Zusammenbruch.
Was würde den Griechen tatsächlich helfen? Kreditvergaben hätten auch meiner Meinung nach dann einen Sinn, wenn sie direkt von der Europäischen Zentralbank zu einem niedrigen Zinssatz vergeben werden könnten (dafür muss man dann eben die Voraussetzungen schaffen!) und Europa das Ganze mit einer Art Marshallplan begleiten würde.
Bis zum Erscheinen dieses Artikels kann sich die Situation schon verändert haben: vielleicht haben die Kräfte der allgemeinen und der ökonomischen Vernunft in Europa an Boden gewonnen, andererseits ist auch das Scheitern der jetzigen Regierung und sogar ein Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft mit dem nachfolgenden Austritt aus der Eurozone nicht auszuschließen.
Ich kann es mir nicht verkneifen, einmal kurz die Frage nach den Ursachen der Krise zu stellen, die bezeichnenderweise Finanzkrise genannt wird. Das geht nicht ohne wenigstens einen Anflug von Kapitalismuskritik. Es fällt auf, dass nur noch wenig über die Produktion gesprochen wird, also über das klassische Gebiet, auf dem die Profite entstehen.
Was sind die Ursachen der Krise?
Es sieht so aus, als würde ein erheblicher Teil der Gewinne heute im Finanzsektor realisiert werden. Da aber Geld kein Geld produzieren kann, es sich aber trotzdem vermehrt, kann es nur ein spekulativer Zugewinn sein, der irgendwann in sich zusammenfällt. Der Begriff der Spekulationsblase hat ja so sehr in den Alltag Einzug gehalten, dass sein Mechanismus kaum hinterfragt wird. Vielleicht lag Marx mit seinem „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ nicht verkehrt. Ohne das hier jetzt näher auszuführen, würde es jedenfalls eine – möglicherweise nicht die einzige – Erklärung dafür abgeben, warum die Gewinne nicht mehr so sehr in der aufwendigen und weniger profitablen Produktionssphäre gesucht werden, sondern die „Anleger“ verstärkt im Finanzwesen ihr Heil suchen. Das kann schon theoretisch nicht gut gehen, führt aber, wie man sieht, auch praktisch zu immer neuen Krisen.
Zurück zum konkreten Fall Griechenland. Man muss die Anfänge der griechischen Demokratie nicht unbedingt verklären, wie es auch Sahra Wagenknecht in ihrem (sonst ausgezeichneten) Artikel: „Vom Tod europäischer Werte“ in der FAZ vom 30.4.12 tut, man kann die Verhältnisse im Athen der Antike auch realistischer sehen, denn die aufkeimende attische Demokratie war ein Machtinstrument einer kleinen Minderheit männlicher Vollbürger, zu denen also weder Frauen, noch Sklaven noch Zuwanderer zählten. Geschäftssinn und Auswärtsinteressen trieben einen mächtigen Flottenbau voran, der durchaus einer expansionistischen Politik diente. Überhaupt lagen die einzelnen griechischen Stadtstaaten und Bündnisse in einem ständigen (Konkurrenz-)Kampf untereinander, der dann im peloponnesischen Krieg gipfelte und sowohl Sparta als auch Athen ruinierte. Dennoch hat Griechenland eine Stadtkultur entwickelt zu einer Zeit, als die Nord- und Mitteleuropäer noch in kleinen Weilern wohnten und ständig mit dem Hungertod gerungen haben. Dieses klassische antike Griechenland hat bis heute seine Spuren in Kultur, Wissenschaft, Philosophie und Kunst in Europa und darüber hinaus hinterlassen. Griechenland ist keineswegs nur ein krisengeschütteltes Land und schon gar nicht nur ein Anhängsel des Erdteils, der seinen Namen einem griechischen Mythos verdankt: Europa.
Gerd Dieckvoß
(Gerd Dieckvoß ist Gründungsmitglied des VDPP, Autor des Buchs „Wie kam Krieg in die Welt“ (Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2002), war lange Zeit Apothekenleiter in Hamburg-Süll-dorf und lebt auf Kreta und in Hamburg.)
Erschienen im VdPP Rundbrief Nr. 84
TERMINE
07. Oktober, online
18. November, online
VdPP-Vorstandssitzung
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