Mehr als nur eine neue Wettbewerbskreation: Die hausarztzentrierte Versorgung
März 2009
von Ingeborg Simon
WARNHINWEIS: Dieser Beitrag umfasst einen Zeitraum von 2000 bis 2009. Obgleich sein dargestellter Inhalt dramatische ordnungspolitische Auswirkungen haben könnte, ist sein Inhalt sperrig und wenig spannend. Dennoch bitte ich darum, ihn zur Kenntnis zu nehmen, weil er uns alle sowohl als potentielle PatientInnen als auch als PharmazeutInnen trifft.
Was bedeutet Hausarztversorgung?
Ein Blick in das Sozialgesetzbuch V gibt die Antwort. Der § 73 SGB V beschreibt die Aufgaben eines Hausarztes wie folgt:
- die allgemeine und fortgesetzte ärztliche Betreuung eines Patienten in Diagnostik und Therapie bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfeldes,
- die Koordination diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Maßnahmen,
- die Dokumentation, insbesondere Zusammenführung, Bewertung und Aufbewahrung der wesentlichen Behandlungsdaten, Befunde und Berichte aus der ambulanten und stationären Versorgung,
- die Einleitung oder Durchführung präventiver und rehabilitativer Maßnahmen sowie die Integration nichtärztlicher Hilfen und flankierender Dienste in die Behandlungsmaßnahmen.
Zur Teilnahme an der hausärztlichen Versorgung berechtigt sind zugelassene Allgemeinärzte, Kinderärzte sowie Internisten ohne Schwerpunktbezeichnung, die die Teilnahme an der hausärztlichen Versorgung gewählt haben.
Die eingangs zitierte immer noch gültige Aufgabenbeschreibung im §73 SGB V wurde in der GKV-Gesundheitsreform 2000 festgeschrieben. In der Begründung zu diesem Gesetz, das am 1. Januar 2002 in Kraft trat, heißt es dazu erläuternd: Es besteht gesundheitspolitischer Konsens, dass langfristig vorrangig die Allgemeinärzte die hausärztliche Versorgung sicherstellen sollen.
Hier wird die Absicht der damaligen Gesundheitsministerin Andrea Fischer deutlich, dem Hausarzt eine „Lotsenfunktion“ in der gesundheitlichen Versorgung zu übertragen. Damit reagierte sie auf den stark ausgeprägten Trend der GKV-Versicherten, bei Beschwerden nicht zunächst den Hausarzt, sondern gleich einen Facharzt aufzusuchen. Das war für die Kassen nicht nur sehr kostspielig, die fachärztliche Versorgung erfolgte meist auch nur selektiv auf das konkrete Problem bezogen, ohne den Patienten in seiner ganzheitlichen Konstitution zu betrachten Vom Hausarzt als Steuermann und „gate-keeper“ erhoffte sich die Ministerin eine an dem Versicherten und seinem Lebensumfeld ausgerichtete Betreuung. Der Hausarzt sollte entscheiden, wann und in welchen Fällen ein Facharzt hinzugezogen werden sollte, der dann in Kooperation mit dem Allgemeinmediziner die Behandlung begleitet.
Zur Stärkung der besonderen Rolle des Allgemeinmediziners als Lotse wurden entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen. Dazu zählten eine bessere Honorierung des Hausarztes, eine verbesserte Kommunikation mit Fachärzten und anderen Leistungserbringern durch erweiterte Dokumentationsbefugnisse des Hausarztes, eine verlängerte Weiterbildungszeit und die Einführung von Anreizsystemen für den Versicherten bei Verzicht einer Direktinanspruchnahme von Fachärzten. Die Absicht war vernünftig, setzte sich aber in der Praxis nicht durch.
Ein zweiter Versuch zur Aufwertung der hausärztlichen Versorgung ab 2004
Unter der rot-grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde dann das Thema wieder aufgegriffen. In einem Papier des Gesundheitsministeriums vom Mai 2003 wurde daran erinnert, dass zwar die „Lotsenfunktion“ des Hausarztes bereits im geltenden Recht vorgesehen sei, allerdings von den Versicherten bisher nicht in dem Umfang wahrgenommen würde, „wie es gesundheitspolitisch dienlich sei.“ Deshalb sollte im Rahmen einer weiteren Reform versucht werden, mit Anreizsystemen eine höhere Inanspruchnahme bei den Versicherten der GKV zu erreichen. Begründet wurden diese Anstrengungen u. a. damit, dass nur der Hausarzt in der Regel einen umfassenden Blick auf den Menschen „hinter dem Patienten“ besäße, der es ihm erlaube, dessen Beschwerden richtig zu interpretieren.
Deshalb wurde im Gesetzentwurf der Koalition vom 8. September 2003 zur Modernisierung des Gesundheitswesens ein neuer Paragraph (§ 73 b) eingefügt., der unter der neuen Überschrift „Hausarztzentrierte Versorgung“ Eingang in das Gesundheitsmodernisierungsgesetz fand, das zum 1. Januar 2004 in Kraft trat.
Mit diesem zusätzlichen Paragraphen wurden tief greifende Veränderungen für die Versicherten eingeführt. Sie konnten sich nun freiwillig bereit erklären, für die Dauer von mindestens einem Jahr fachärztliche Leistungen nur auf Überweisung durch ihren Hausarzt in Anspruch zu nehmen (hausarztzentrierte Versorgung).
An dieser Versorgung durften nur dafür besonders qualifizierte Hausärzte teilnehmen. In der gesetzlichen Begründung zu dieser Neuregelung hieß es, damit solle eine qualitativ besonders hoch stehende hausärztliche Versorgung ermöglicht werden. Worin diese bestehen sollte, wurde nicht näher ausgeführt. Es wurde nur festgelegt, dass die Anforderungen sowohl personell als auch sächlich die normale hausärztliche Versorgung „übersteigen“ müssten. Näheres dazu müsste in den Verträgen zwischen Kassen und Ärzten geregelt werden.
Der Gesetzgeber verfolgte mit dieser neuen Vertragsform nach eigener Aussage das Ziel, den Krankenkassen über das geltende Vertragsrecht hinaus „Gestaltungsspielraum zur einzelvertraglichen Ausgestaltung des Versorgungsgeschehens“ zu eröffnen.
Die Krankenkassen müssen nicht jeden interessierten Hausarzt unter Vertrag nehmen, sondern nur so viele Bewerber auswählen, wie aus ihrer Sicht für die hausarztzentrierte Versorgung erforderlich sind. Während die Teilnahme der Versicherten freiwillig ist, haben die Kassen diese Versorgungsform jedem Versicherten anzubieten.
Neu und bemerkenswert ist, dass hier mit der Einführung der Möglichkeit für die Kassen einzelvertragliche Regelungen mit ausgewählten Ärzten abzuschließen, gleichzeitig die Kassenärztlichen Vereinigungen als mögliche Vertragspartner ausgeschlossen wurden.
Das war sicherlich kein Zufall. Es wurde nur etwas umgesetzt, was Bundeskanzler Schröder bereits in seiner Regierungserklärung vom März 2003 angekündigt hatte. Hier hatte er bezogen auf die geplante neue Gesundheitsreform ausgeführt, der Staat müsse den Abbau von Verkrustungen ermöglichen, mehr Wettbewerb zulassen und Monopolstrukturen beseitigen. Dazu gehöre auch das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen , das sich überlebt habe . Es müsse darum den Kassen erlaubt werden, Einzelverträge mit den Ärzten abzuschließen. Mit dem § 73 SGB V wurde genau das vollzogen.
Die Weiterentwicklung des Hausarztmodells nach § 73 b SGB V ab April 2007
Trotz des Versprechens, den Versicherten mit der Einführung der hausarztzentrierten Versorgung eine qualitativ bessere Versorgung zu sichern und trotz der ihnen angebotenen Vergünstigungen bei einer Teilnahme, hatte auch diese Neuregelung nicht den erwünschten Effekt und es wurden weitere Nachbesserungen angestrebt, die mit dem im April 2007 in Kraft getretenen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) realisiert wurden.
Mit dem Inkrafttreten des GKV-WSG zum 1. April 2007 wurden jetzt diejenigen Mindestanforderungen an die hausarztzentrierte Versorgung im Gesetz exakt beschrieben. die über die der allgemeinen hausärztlichen Versorgung hinausgehen. Da geht es um die Verbesserung der Pharmakotherapie, die Einhaltung einer Behandlung, die sich an praxiserprobten evidenzbasierten Leitlinien orientiert, eine an hausarzttypischen Problemen ausgerichtete Fortbildungsverpflichtung und das Vorweisen eines hausarztspezifischen internen Qualitätsmanagements. Der Gesetzgeber erhoffte sich davon eine verbesserte Versorgungsqualität bei gleichzeitiger Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven – vor allem durch die Minimierung von Überweisungen an die Fachärzte.
Die Teilnahme der Versicherten blieb freiwillig, für die interessierten Ärzte bestand weiterhin kein Anspruch auf einen Vertragsabschluss Im Gesetzentwurf der Koalition blieben wie beim Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 die Kassenärztlichen Vereinigungen als potentielle Vertragspartner ausgeschlossen Begründet wurde es damit, dass es sich hier um Selektivvertragsregelungen außerhalb des Kollektivvertragsrechtes handele.
Interessanterweise konnte sich dieser Ansatz aber nach einem Protest des Bundesrates diesmal nicht durchsetzen mit der Folge, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen zumindest unter bestimmten Voraussetzungen – wenn auch mit Einschränkungen – wieder zur Versorgung nach § 73 b SGB V zugelassen wurden.
Trotz der mit dem GKV-WSG vorgenommenen Präzisierung möglicher Vorteile bei einer Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung blieb auch jetzt erneut der erwünschte Erfolg auf Seiten der Versicherten aus. Umfrageergebnisse der Bertelsmann-Stiftung bestätigten die Wahrnehmung diverser Kassen, die einen solchen Wahltarif pflichtgemäß im Angebot hatten, dass die Nachfrage auf Seiten der Versicherten sehr mäßig geblieben war. Der Gesetzgeber musste auch feststellen, dass viele Kassen trotz der gesetzlichen Verpflichtung keine hausarztzentrierte Versorgung in ihren Leistungskatalog aufgenommen hatten.
In seinem Jahresgutachten 2007 nahm auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Stellung zu den Hausarztmodellen der Regierung. Sie fiel sehr kritisch aus. Der Rat sah u. a. in isolierten Hausarztmodellen eine Abkehr von dem Ziel einer verstärkten Vernetzung der unterschiedlichen Versorgungsformen und -ebenen. Er vertrat die Auffassung, unter Wettbewerbsaspekten müsse es ausreichen, den Krankenkassen die Möglichkeit zu bieten, ein solches Angebot vorzuhalten. Erwiese sich die hausarztzentrierte Versorgung als vorteilhaft im Wettbewerb, hätten die Kassen von sich aus ein begründetes Interesse, eine solche Versorgungsform anzubieten.
Der vorläufig letzte Akt in der unendlichen Geschichte ab Januar 2009
Offenbar blieb die Kritik des Sachverständigenrats ohne jede Wirkung auf die politischen Verantwortungsträger wie der aktuelle Stand der Entwicklung deutlich macht. Anlässlich der Einbringung eines Gesetzentwurfs zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) wurden Änderungsanträge der großen Koalition eingebracht, die auch einige von ihnen gerade erst mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vorgenommene Neuerungen betrafen. Dazu zählte auch der leidige § 73 b SGB V.
Hierzu heißt es: Zur flächendeckenden Sicherstellung einer hausarztzentrierten Versorgung müssen die Krankenkassen spätestens bis zum 30. Juni 2009 Verträge mit Gemeinschaften schließen, die mindestens die Hälfte der an der hausärztlichen Versorgung teilnehmenden Allgemeinmediziner eines KV-Bezirks vertreten. Bei Uneinigkeit können die Ärztegemeinschaften ein Schiedsverfahren beantragen. Erst wenn ein solcher Vertrag geschlossen wurde oder auf Grund fehlender Voraussetzungen nicht abgeschlossen werden konnte, können Versorgungsverträge mit anderen zur kassenärztlichen Versorgung berechtigten Organisationen geschlossen werden.
In der Begründung dazu heißt es: Obgleich die Kassen ausdrücklich verpflichtet gewesen seien, hausarztzentrierte Versorgung anzubieten, sei es nicht zur flächendeckenden Sicherung dieses Angebots gekommen. Mit der Neuregelung würde bezweckt, das mit dem GKV-WSG eingeführte eigenständige Verhandlungsmandat der Hausärztegemeinschaft zu stärken. Die besondere Qualifizierung von Allgemeinärzten rechtfertige eine Vorrangstellung für die Hausärzte-Gemeinschaften.
Die Kritik an diesem neuen ordnungspolitisch sensationellen Coup war massiv. Nach Auffassung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung verstößt diese Änderung gegen Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht und stehe im Widerspruch zu der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Das staatlich gesicherte Aufgabenfeld der Kassenärztlichen Vereinigungen würde teilenteignet und durch ein privates Monopol ersetzt.
Ähnlich argumentierten die Bundesverbände der Krankenkassen und deren Spitzenverband. Sie sehen hier die Schaffung eines „Quasi-Kollektivvertragsrechts“ ohne Kassenärztliche Vereinigungen. Außerdem würde der Wettbewerb um eine besondere Versorgungsqualität zunichte gemacht. Auch der Bundesverband Hausärztlicher Internisten sieht in dieser „Lex Hausärzteverband“ eine Verletzung von Grundrechtsnormen.
Diese während einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages im September 2008 vorgetragenen Argumente konnten die Regierung nicht zum Einlenken bringen. Der geänderte § 73 b SGB V ist seit dem 1. Januar 2009 in Kraft. Die Folgen sind vielfältig. Die meisten Kassen haben inzwischen die bereits in der Vergangenheit abgeschlossenen Hausarztverträge gem. § 73 b gekündigt. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung behält sich rechtliche Schritte vor, der Bundesverband der Ortskrankenkassen fordert die Rücknahme der Verpflichtung zu Vertragsabschlüssen, er möchte sie nur als freiwillige Angebote erhalten. Diverse Facharztverbände fordern jetzt vergleichbare Regelungen, denn sie fürchten um Honorareinbußen zugunsten des Hausärzteverbandes. Der § 73 b stiftet Unfrieden innerhalb der KV-Bereiche, zwischen Hausärzteverband und anderen Organisationen, in denen Ärzte der Allgemeinmedizin organisiert sind. Plötzlich steht auch die gerade einvernehmlich entwickelte Honorarreform, die am 1. Januar 2009 in Kraft trat, wieder zur Disposition.
Wir warten gespannt auf den nächsten Akt in diesem Trauerspiel. Viel Lärm um Nichts, ist man versucht zu sagen, zumal niemand weiß, ob die bisher wenig ermutigenden Versuche, die Versicherten für dieses besondere Angebot der hausarztzentrierten Versorgung zu gewinnen, ausgerechnet jetzt zu einer Erfolgsgeschichte mutieren.
Was geht uns PharmazeutInnen das an?
Auch wenn die Frage im Augenblick schwer zu beantworten sein dürfte, sie drängt sich auf und beunruhigt. Selektivverträge und deren Ausweitung bedeuten immer auch Selektion bei Anbietern und Leistungsträgern. Ab wann wird dieser Ausstieg aus Kollektivverträgen allgemeine Praxis und was bedeutet das für die Aufrechterhaltung einer flächendeckenden Versorgung mit Arzneimitteln für alle? Wird es schon bald von den Kassen auserwählte Hausapotheken geben? Was wird aus Apotheken, die ihrerseits kein Anrecht auf einen Vertragsabschluß mit einer großen Versorgerkasse haben? Welche zusätzlichen Qualifikationsmerkmale könnten Einzelgruppen von Apotheken gegenüber der Konkurrenz privilegieren?
Diese Fragen könnten sich schon bald stellen, sollten die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, die für die hausarztzentrierte Versorgung geschaffen wurden, Schule machen.
TERMINE
07. Oktober, online
18. November, online
VdPP-Vorstandssitzung
04. November, online
02. Dezember, online