Der Systemwechsel kommt durch die Hintertür

von Ingeborg Simon

 

Vor der parlamentarischen Verabschiedung des GKV-Wettbewerbsstärkungs-gesetzes (GKV-WSG) wurden im Verlauf mehrtägiger Anhörungen viele Stellungnahmen dazu abgegeben. Die wichtigsten Beteiligten auf der Kosten- und Leistungsträgerseite kamen zu Wort. Allerdings beschränkten sich fast alle auf lobbyistisch geprägte Aussagen und verzichteten darauf, den Gesetzentwurf im Ganzen in gesellschafts- und gesundheitspolitischer Hinsicht zu bewerten. Eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen war die Stellungnahme des VDÄÄ, die zu der Schlussfolgerung kam, dass mit der Einführung von Elementen einer Kopfpauschale und von Elementen der Privaten Krankenversicherung in die GKV ein weiterer Schritt der Transformation des auf Sozialausgleich beruhenden Gesundheitswesens in Deutschland vollzogen wird.

 

Ich teile diese Einschätzung, auch da, wo sie vor der drohenden Privatisierung unserer solidarisch organisierten Gesetzlichen Krankenversicherung warnt. Ergänzend hinzufügen möchte ich, dass die Anfänge dieses einst unauffällig scheibchenweise eingeleiteten Prozesses weit zurückreichen, mindestens bis zum Beginn der 80er-Jahre. Es begann mit der Einführung einer geringen Rezeptblattgebühr für Arzneimittel, die schon bald in eine Arzneimittelzuzahlung pro Verordnung überführt wurde sowie ersten Leistungsausgrenzungen. Spätestens mit den Beschlüssen von Lahnstein 1992 unter der gesundheitspolitischen Verantwortung von Minister Seehofer (CSU), die den Wettbewerb zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen einführten, wurden die von der Politik damit verfolgten Deregulierungs- und Ökonomisierungsabsichten der GKV offenkundig.

 

Ideologisch flankiert wurden diese Maßnahmen von neoliberalen “think tanks” und den ihnen nahe stehenden Experten in der Rolle hoch dotierter Hilfstruppen der politischen Exekutive (sog. Expertenkommissionen). Regierungskoalitionen aller Couleurs von schwarz-gelb über schwarz-rot bis rot-grün ließen sich als “Vollstrecker” des eingeleiteten Ökonomisierungs- und Privatisierungsprozesses instrumentalisieren. Die seit Beginn der 80er-Jahre verabschiedeten Kostendämpfungs- und Reformgesetze vom Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz 1983 über das Gesundheitsreformgesetz 1989, das Gesundheitsstrukturgesetz 1992, das Beitragsentlastungsgesetz 1996, das 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz 1997 bis hin zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2004 und GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 bilden jeweils Etappen auf dem geduldig aber hartnäckig verfolgten Weg in die ordnungspolitisch sich verändernde gesundheitliche Versorgungslandschaft neoliberaler Prägung.

 

Neue Begriffe markieren diesen Wandel, der für den Sozialstaat und seine Wertvorstellungen zur Bedrohung geworden ist. Der gesetzlich Krankenversicherte hat sich daran gewöhnt, als Kunde wahrgenommen zu werden, der bei einem Serviceunternehmen versichert ist und Gesundheitsprodukte oder -dienstleistungen nachfragt. Aus dem leidenden Patienten wurde der eigenverantwortlich handelnde mündige Bürger, aus dem Arzneimittel eine Ware.

 

Mit dem GKV-WSG hat die endgültige Demontage des Solidaritätsprinzips die Zielgerade erreicht. Das Tempo, mit dem jetzt ganz unverhohlen auf die Auflösung der Solidargemeinschaft der GKV hingearbeitet wird, hat zuvor mit dem von Rot-Grün ein- und durchgebrachten Gesundheitsmodernisierungsgesetz eine deutliche Beschleunigung erfahren u. a. über enorme Zuzahlungsausweitungen, weitere Leistungsausgrenzungen, Wettbewerbsverschärfungen innerhalb des GKV-Systems, die Übernahme von Privatisierungselementen aus der Privaten Krankenversicherung wie Kostenerstattungs-, Prämien- und Selbstbehaltsregelungen für freiwillig Versicherte, die jetzt erlaubte früher als wettbewerbswidrig verurteilte Vermittlung von privaten Zusatzversicherungen durch die gesetzlichen Kassen, die Abschaffung der Härtefallregelung für sozial Benachteiligte und die Einführung der Praxisgebühr beim Arztbesuch. Alle diese Maßnahmen gehen vor allem zulasten von finanzschwachen Bevölkerungsgruppen und verschärfen den Trend der Risikoselektion innerhalb des GKV-Systems. Ganz offenbar wurde von der Politik dabei billigend in Kauf genommen, dass eine wachsende Zahl von GKV-Mitgliedern trotz ihrer gesetzlich garantierten Rechte auf eine ausreichende humane medizinische Versorgung gem. SGB V diese nicht mehr realisieren kann, weil ihnen die für Zuzahlungen und Praxisgebühr erforderlichen Finanzen nicht zur Verfügung stehen. Sozial und finanziell Benachteiligte wie Hartz-IV-Empfänger, Sozialhilfebezieher, Heimbewohner, behinderte und chronisch kranke Menschen, Bafög-Studenten und Wohnungslose werden an der Wahrnehmung ihrer gesundheitlichen Rechte gehindert. Die Solidarität des Starken mit dem Schwachen kommt nicht mehr zur Wirkung.

 

Gleichzeitig wurde Besserverdienenden die Möglichkeit eröffnet, vom Gesetzgeber gestrichene Leistungen durch private Zusatzversicherungen “zurückzukaufen”. Besserverdienende belastet der ausgeweitete Trend zur Privatisierung gesundheitlicher Risiken finanziell weniger, während der Obdachlose am Bahnhof Zoo in Berlin zehn Euro erbetteln muss, um die im Bahnhof angebotene ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen zu können.

 

Dieser mit dem GMG sanktionierte Entsolidarisierungsprozess erfährt jetzt mit dem GKV-WSG eine nochmalige Steigerung u. a. mit der

  • Einführung einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale für alle GKV-Mitglieder,
  • Verschärfung des Verschuldensprinzips,
  • Aufweichung der Überforderungsklausel für chronisch Kranke,
  • Ausweitung von Teilkasko-, Selbstbehalts-, Prämien- und Kostenerstattungsmodellen auf alle GKV-Mitglieder, die es sich finanziell und gesundheitlich leisten können und dafür mit Prämien und Beitragsrückerstattungen aus dem Kassentopf belohnt werden,
  • Nichtanrechnung von Krankenhauspauschalen auf die Überforderungsregelung,
  • Zuzahlung für verordnete innovative Arzneimittel, wenn der Hersteller sich nicht zur Einhaltung eines Höchstbetrages bereit erklärt,
  • Ausdünnung einer flächendeckenden wohnortnahen Versorgung durch die Reduzierung der Anbieterzahlen (bei Hilfsmitteln und im Rahmen von Sonderverträgen).

 

Alle diese Maßnahmen treffen arme und kranke Menschen ganz besonders, da sie größeren gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt sind und von daher einen höheren Versorgungsbedarf haben, den sie aber wegen der damit verbundenen Zuzahlungen nicht befriedigen können. Gleichzeitig werben die Kassen in einem harten Verdrängungswettbewerb untereinander mit Anreiz- und Belohnungsinstrumenten um sog. gute Risiken.

 

Seit vielen Jahren werden die bei uns beschlossenen und umgesetzten “Gesundheitsreformen” mit ihrem wachsenden Anteil an GKV-fremden d. h. unsozialen Elementen auch vom Europäischen Gerichtshof mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Deutsche Kommentare zur EuGH-Rechtssprechung im Bereich der Sozialversicherung warnen immer öfter vor den wettbewerbsrechtlichen Folgen der Deregulierung und Entsolidarisierung in der GKV. In einem interessanten Aufsatz vom November 2006 (Soziale Sicherheit 11/06) macht Prof. R. Schlegel, Richter am Bundessozialgericht in Kassel, darauf aufmerksam, dass der Europäische Gerichtshof bisher noch anerkennt, dass die Träger unserer Sozialversicherung im Leistungsbereich keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts, weil sie nach dem Grundsatz der Solidarität rein soziale Zwecke erfüllen ohne jegliche Gewinnerzielungsabsicht.

 

Unter Verweis auf das GKV-WSG fährt Prof. Schlegel dann fort: “Je mehr die Sozialversicherungsträger nach Prinzipien und Gesichtspunkten der privaten Versicherungswirtschaft agieren dürfen, desto eher liegt eine wirtschaftliche und keine soziale Tätigkeit vor, mit der Folge, dass das europäische Wettbewerbsrecht zur Anwendung gelangen kann. Dies gilt erst recht, wenn der Gesetzgeber den Kassen selbst klassische wettbewerbssichernde Maßnahmen wie Ausschreibungen und Vergabeverfahren zur Pflicht macht. Das GKV-WSG geht diesen Weg.” Er fragt sich deshalb, wie lange der EuGH noch bei seiner bisherigen Rechtsauffassung bleiben wird, also die Sozialversicherung nicht dem wettbewerblichen Unternehmensbegriff unterwirft. Sollte der EuGH angesichts des in Kraft getretenen GKV-WSG den sozialen Charakter der GKV, der auf dem Grundsatz der Solidarität zugunsten finanziell und gesundheitlich benachteiligter Menschen beruht, nicht mehr gewahrt sehen, dann wird er einen qualitativen Wandel des gesamten Steuerungssystems in der Gesundheitspolitik einleiten, der das Ende für die solidarische Krankenversicherung bedeutet und die Schleusen für den freien Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr und -wettbewerb in der Europäischen Union für den Gesundheitsdienstleistungssektor weit öffnet. Bolkestein-Richtlinie ante portas als reale Drohung dank der Einführung des GKV-WSG!

 

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