Der Traum von der sozialen Pharmazie
Festrede aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums der Gründung der VDPP am 20. Juni 2009 im Curio-Haus in Hamburg
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Juni 2009
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock
Diese Rede zu halten ist für mich nicht nur eine Ehre und ein Vergnügen, sondern auch ein Ausflug in die Vergangenheit: Arzneimittelpolitik stand von Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre im Mittelpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeiten.
Heute beschäftige ich mich mit Public-Health-Politik. Da ist Krankenversorgung ‚nur’ noch eine von verschiedenen Interventionsformen, und Arzneimittel sind ‚nur’ eine Versorgungskomponente unter vielen anderen, in der GKV immerhin nach dem Krankenhaus die zweitteuerste, gefolgt von der ambulanten ärztlichen Versorgung.
Was ist das nun, „Public Health“?
Public Health ist Theorie und Praxis der auf Gruppen bzw. Bevölkerungen bezogenen Maßnahmen und Strategien der Verminderung von Erkrankungs- und Sterbewahrscheinlichkeiten durch Senkung von Belastungen und Stärkung von Ressourcen. Public Health analysiert und beeinflusst hinter den individuellen Krankheitsfällen epidemiologisch fassbare Risikostrukturen, Verursachungszusammenhänge und Bewältigungsmöglichkeiten. Dazu gehört auch die Steuerung der Krankenversorgung (R. Rosenbrock 1992).
Gemessen daran erscheinen mir die Definitionen von Sozialpharmazie, die ja mit Public Health starke Überschneidungen aufweist, ohne ein bloßer Teil davon zu sein, zu eng, zu klein – zu wenig träumerisch. Noch hinreichend weit im Allgemeinen ist die frühe Definition von Marion Schaefer (M. Schaefer, DAZ 1991):
„Sozialpharmazie untersucht die Interaktion von Arzneimittel und Gesellschaft.“ Die ihrerseits auf den seinerzeitigen Generaldirektor der Schwedischen Apothekersozietät, L.-E. Froklöf, Bezug nimmt (L.-E. Froklöf, Pharm. Prax. 1988): „Sozialpharmazie bezieht sich … auf die Relationen und das Zusammenspiel zwischen dem Patienten und dem Arzneimittel, zwischen dem Pharmazeuten und den Patienten und zwischen dem Arzneimittelversorgungssystem und dem Gesundheitswesen sowie der Gesellschaft als Ganzes.“
Davon ist auch die Definition abgeleitet, die ich auf der Homepage der VDPP fand (Stand: Juni 2009): „Nach ihrem Selbstverständnis untersucht die Sozialpharmazie jene Beziehungen, die Arzt, Apotheker und Patient untereinander und zum Arzneimittel eingehen und ordnet sie in soziale und ökonomische Zusammenhänge ein.“
Definitionen sind nicht richtig oder falsch, sondern zweckmäßig oder unzweckmäßig. Gestützt auf meine umrisshaften Kenntnisse Ihres Arbeitsfeldes und mit Blick auf mein Fach Public Health halte ich nun folgende Definitionen von Sozialpharmazie für zweckmäßig, sowohl als Startpunkt fürs Träumen als auch für die Erstellung von Forschungs- und Handlungsprogrammen:
Definition: Soziale Pharmazie ist Wissenschaft und Praxis der bedarfsgerechten, zugänglichen und sicheren Versorgung mit bestmöglichen Arzneimitteln für die gesamte Bevölkerung.
Gehen wir die Komponenten dieses Definitionsversuchs stichwortartig durch:
- Wissenschaft und Praxis:
- Soziale Pharmazie als Ausbildungsgang,Wissenschaft und Berufspraxis ist kein Selbstzweck, sondern sie muss Teil sein der Bemühungen um eine dem Stand des Möglichen angemessenen Versorgung. Das setzt – wie bei Public Health – einen besonderen Praxisbezug voraus. Damit will ich zweierlei sagen: Teil der Bemühungen von sozialer Pharmazie muss es sein, die Ergebnisse von Forschung in die Praxis umzusetzen; das ist der Praxisbezug jeder angewandten Wissenschaft. Das sollte andererseits auch bedeuten, Fragestellungen aus der Praxis zusammen mit den Nutzern, Patienten oder auch (Apotheken-)Kunden aufzunehmen, wo immer das möglich ist. Und heißt damit auch: Praxisforschung, Aktionsforschung ist Teil des Methodenarsenals. Theorie und Praxis einer sozialen Pharmazie wird damit zum Bestandteil einer rationalen und humanen Gesundheitspolitik. Das impliziert: Wer die Ziele von sozialer Pharmazie unterstützen will, muss sich auch für die Bedingungen der Möglichkeit des Entstehens und Funktionierens eines solchen Ansatzes interessieren.
- Versorgung:
- Die Versorgung umfasst in meinen Augen nicht nur die ‚Endstufe’, also die Patientenversorgung, sondern alle Stufen von der Entscheidung (einer Firma, einer Universität) in einer bestimmten Richtung zu forschen (Entscheidung für Forschungsinvestitionen), über die Entscheidung, auf den Markt zu gehen, die Zulassung, Preisbildung bis hin zur Optimierung der ökonomischen und sozialen Bedingungen der Auswahl von und des Zugangs zu Arzneimitteln sowie der Bedingungen der korrekten Einnahme. Nicht nur, aber ganz besonders für diese letzte Stufe gilt die Forderung eines möglichst starken Involvement der Patient/-innen, also auch hier: möglichst starke Partizipation. Bedarfsgerecht: Bedarfsgerecht bedeutet nicht unbedingt auch bedürfnisgerecht. Bei wissenschaftlich ‚unvernünftigen’ Bedürfnissen kann ein Konflikt zwischen Bedarf und Bedürfnis entstehen. Diese Abgrenzung wird im Band 1 des SVR-Gutachtens 2001 ausgeführt, Bedarfsgerecht heißt auch, Arzneimittel jeweils in Abwägung zu und ggf. in Kombination mit anderen verfügbaren Interventionsformen einzusetzen. Der Begriff ‚bedarfsgerecht’ gibt aber zugleich auch Kriterien für die Forschung und Entwicklung vor, denn er lautet nicht ‚markt’-gerecht, d. h. nicht umsatzoptimal, sondern eben ‚bedarfs’-gerecht.
- Zugänglichkeit:
- Zugänglich meint nicht nur erreichbar in Raum und Zeit und schwellenfrei – physisch und sozial –, zugänglich heißt auch Zugang zum notwendigen Verständnis dessen, was da passiert, und das ist mehr als die Packungsbeilage, ggf. Beratung, aber nicht jede Beratung hat auch Nutzen. Deshalb gilt für Beratung (z. B. durch Apotheker) wie für das Arzneimittel: Sinnvoll ist (und Kassenleistung soll sein), wofür ein Nutzennachweis erbracht wurde (Evidenz). Evidenz muss auch verlangt werden zum Nutzen immaterieller und materieller Anreize bei der Steuerung des Patientenverhaltens. Und da besteht eine erhebliche Kluft zwischen wissenschaftlicher Evidenz und gesundheitspolitischer Praxis: z. B. liegt breite und übereinstimmende Evidenz vor zur Unzweckmäßigkeit von Direktzahlungen bei Arzneimitteln und in der Krankenversorgung generell (J. Holst 2008, PDF)
- Sicherheit:
- Der Begriff beinhaltet mehr als AMG-Kriterien und GMP; auch die Dosierung, Einnahmemodalitäten und Interaktionen.
- Für die gesamte Bevölkerung:
- Dieser Ausdruck impliziert equity, im Hinblick auf Arzneimittel also den sozial und ökonomisch undiskriminierten Zugang zu einer qualitativ hochwertigen und vollständigen Krankenversorgung. Dies ist in Deutschland ziemlich weit entwickelt, und das ist ein hohes zivilisatorisches Gut. Die Zustimmungs-Quoten in Umfragen zur GKV liegen in der Bevölkerung stets oberhalb von 70%. Angesichts der sozial bedingten Ungleichheit von Gesundheitschancen ist equity ein zentrales Kriterium einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Gesundheitspolitik. Soziale Ungleichheit sollte berücksichtigt werden in Hinblick auf physisch, ökonomisch und sozial schwellenfreien Zugang zum Sortiment. Verordnung sollte sensibel sein in Hinblick auf soziale Umstände der Arzneimittel-Einnahme, adherence to therapy ist eine Bringschuld (SVRGutachten 2003)
Das wäre so ein Traum von sozialer Pharmazie.
Er kann sich nur in Richtung Realität bewegen in einem Gesundheitswesen und gesteuert von einer Gesundheitspolitik, das bzw. die als Management von Gesundheitsrisiken vor und nach ihrem Eintritt verstanden und betrieben wird. Dort wird zuerst geprüft, was und wie präveniert werden kann, Interventionen sollten also im Zweifel möglichst weit upstream ansetzen (R. Rosenbrock 2008, http://bibliothek.wzberlin. de/pdf/2008/i08-303.pdf)
Eine solche Gesundheitspolitik landet rasch an den Determinanten, also jenen Faktoren, die hauptsächlich die Verteilung von Gesundheitschancen bestimmen: Einkommen, Arbeit, Bildung, soziale Teilhabe und Vernetzung.
Wo das nicht oder nicht schnell genug geht, folgt als nächsttiefere Interventionsstufe die moderne Prävention und Gesundheitsförderung. Diese ist v. a. manifestiert in Setting- Interventionen, bei denen es darum geht, einen Sozialzusammenhang (Stadtteil, Betrieb, KiTa, Schule, Freizeiteinrichtung, Senioreneinrichtung, aber auch Krankenhaus), möglichst weitgehend und möglichst weitgehend partizipativ nach den Bedürfnissen der Nutzer und stakeholder zu gestalten, seine offenen und verborgenen, materiellen und immateriellen Anreize von den Nutzern und mit den Nutzern unter dem Gesichtswinkel der Gesundheitsförderung zu durchforsten.
Selbst wenn das alles prächtig funktioniert (das ist ein eher irrealer Traum), blieben immer noch genügend Krankheiten – eingetretene Risiken – übrig. Die Diskussion in der französischen Nationalversammlung im Umkreis der Französischen Revolution, was denn nun mit all den Ärzten passieren solle, nachdem eine gesunde Gesellschaft aufgebaut worden sei, hat sich als zu träumerisch und deshalb gegenstandslos erwiesen.
Im Rahmen von Gesundheitspolitik als Management von Gesundheitsrisiken geht es nach Eintritt des Risikos um Krankenversorgungspolitik: Im Ergebnis soll Gesundheitspolitik dafür sorgen, dass jeder Mensch mit einem Gesundheitsproblem zur richtigen Zeit den richtigen Eingang in die Versorgung findet und dort auf integrierte und nutzerfreundlich vernetzte Strukturen trifft, in denen ihn gut ausgebildete Fachkräfte – unter ergebnisorientierten Anreizen und mit geeigneter Technologie – medizinisch qualitätsgesichert, freundlich, respektvoll und ressourcenorientiert diagnostizieren, therapieren, rehabilitieren, pflegen und unterstützen.
Auch so ein Traum. Träume sind schön und wichtig. Aber für die Realisierung von Träumen muss man zunächst die gegenwärtige Lage analysieren, und zwar in ihrer Differenz vom Erträumten analysieren, und dann Schritte – how to come from a to b – überlegen. Man muss also zunächst einmal wissen, unter welchen Anreizen und Bedingungen die Akteure stehen, um zu begreifen, warum sie handeln, wie sie handeln, und dann überlegen, unter welchen Anreizen sie stehen müssten, damit sie handeln, wie sie handeln sollten.
In einem Projekt der ‚Vereinigung demokratischer Wissenschaftler’ haben dies im Hinblick auf die Arzneimittelindustrie in Deutschland vor mehr als 30 Jahren zwei Mediziner und ein Ökonom versucht (V. Friedrich, A. Hehn, R. Rosenbrock 1977: „Neunmal teurer als Gold“).
In der von 1975 bis 1977 durchgeführten Untersuchung zu einer Stufe der AM-Versorgungder Pharmaindustrie kamen wir auf Basis breiter empirischer Analysen zu dem Ergebnis:
Die pharmazeutische Industrie
- richtet Innovationen nach Umsatz und nicht nach Bedarf,
- gibt wesentlich weniger Geld für Forschung aus als behauptet (und bei der Preisgestaltung kalkuliert),
- ist wesentlich weniger innovativ als behauptet,
- richtet Patentpolitik nicht nach den Bedingungen der Weiterentwicklung des Arzneimittelschatzes, sondern am Kriterium der Absicherung des eigenen Geschäftsfeldes aus,
- richtet Zulassungspolitik nicht am Bedarf aus, sondern am möglichen Umsatz,
- betreibt keine saubere Information, sondern Werbung mit korruptiven Komponenten,
- kalkuliert Preise nicht an den Kosten, sondern am Durchsetzbaren,
- instrumentiert Leid und Ängste als Unterstützung für ihre Interessen,
- betreibt alle Formen der legalen und illegalen Beeinflussung der Politik, der Wissenschaft und der öffentlichen Meinung, um diese Bedingungen abzusichern.
Im Ergebnis kam die Studie im Hinblick auf die Arzneimittelversorgung in der BRD zu folgender Kurzformel:
- Zu viel (im Sinne von zu viele Arzneimittel und zu hoher Konsum),
- zu teuer,
- unsicher.
Seither hat sich viel geändert; einiges Wichtige, aber kaum Grundsätzliches.
Die Ausrichtung von Forschung und Innovation hat sich kaum geändert: Das einzige in der Marktwirtschaft durchsetzbare Mittel scheint die Subventionierung der Pharma- Industrie für gesundheitspolitisch erwünschte Innovationen – Stichworte: orphan diseases oder Malaria – zu sein, zum Teil durch direkte Zahlungen aus öffentlichen Mitteln, zum Teil in Form der berühmten und zum Teil auch berüchtigten Public Private Partnership (PPP).
Seit 1977 sind sicherlich einige Fortschritte bei der Zulassung und Sicherheit in Deutschland erzielt worden: Das Buch ist vor dem Arzneimittelgesetz von 1978 geschrieben worden.
Aber die Sicherheit des Arzneimittels ist noch lange nicht die Sicherheit der Arzneimittel- Versorgung. Eigene Erfahrungen aus der aktuellen Teilnahme an der Ausarbeitung der Deutschen Antibiotika-Resistenz-Strategie (DART) zeigen: Das Problem der Zuvielverordnung von Antibiotika war dort nur im Hinblick auf die Begehrlichkeiten der Patienten zu thematisieren. Nicht als Struktur- oder Anreizfehler im Versorgungssystem.
Größere Fortschritte sind seit 1977 sicherlich auch in der Preis- und Kostenbildung zu verzeichnen: v. a. durch die erfolgreichen Steuerungsinstrumente Festbeträge und Generika. Aber bis heute gibt es noch keine Kontrolle über die Preisbildung für patentierte Arzneimittel, z. B. liegen die Kosten für die HPV-Impfung aktuell zwischen mehr als 450 € in Deutschland und ca. 220 € (u. a. Schweiz, Dänemark).
Die Kassen sind seit 1977 deutlich stärker geworden. Das ist aktuell zu sehen beim Abschluss von Rabattverträgen. Diese laufen auf kassenspezifische Positivlisten hinaus, mit – für den Patienten kostspieliger – Opt-out-Option. NB: Man hört erstaunlich wenig über damit verbundene Risiken in Qualität und Sicherheit.)
Die heute möglichen Direktverhandlungen zwischen Krankenkassen und Pharma- Industrie wurden zwar schon im Reformkapitel für ‚Neunmal teurer als Gold’ gefordert, aber dieses Kapitel wurde mir damals von der VDW wegzensiert und erschien ein Jahr später im Jahrbuch für kritische Medizin (R. Rosenbrock, Staatliche Reformpolitik im Gesundheitswesen am Beispiel der Arzneimittelversorgung, in: Argumente für eine soziale Medizin VIII, Berlin 1979, S. 59-87).
Bis heute jedenfalls haben wir weder eine allgemein gültige Positivliste, noch eine vierte Hürde bei der Zulassung von Arzneimitteln, eine Art Bedarfsprüfung, die auf Dauer den gleichen Effekt hätte wie eine Positivliste und dazu auch noch dynamisch und systematisch angewendet werden könnte.
Wie sieht es aus mit der Information und Werbung seit 1977: Marcia Angells Buch „Der Pharma Bluff“ von 2005 zeigt, dass auch die weltweit führenden Journale, in diesem Fall das New England Journal of Medicine (NEJM), nicht sicher sind vor Korruption und Druck von Pharma-Multis, sowohl darauf bezogen was veröffentlich wird als auch was nicht veröffentlicht wird. Generell: Das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel wird immer wieder versucht zu unterlaufen und auszuhöhlen. Derzeit ‚droht’ mal wieder eine EU-Richtlinie, die den Unternehmen in aller – gespielten – Naivität Informationen für das Publikum erlaubt, Werbung hingegen nicht. EU: das sind eben bis heute v. a. die vier Grundfreiheiten der Freizügigkeit des Verkehrs mit Kapital, Waren, Dienstleistungen und von Personen, die im Zweifel höher gestellt werden als das Gemeinwohl.
Und weltweit? Wer zumindest sporadisch Pharmabrief, Arzneimitteltelegramm und Arzneimittelbrief liest, weiß: im Grunde geht es immer noch seinen alten kapitalistischen Gang, besonders abstoßend oft in armen tropischen Ländern, politisch skandalisiert immer wieder am Kampf um Lizenzen und Preise von Aids-Medikamenten.
Marx zitiert im ersten Band des Kapitals den englischen Gewerkschaftsautor T. J. Dunnings: „Kapital ... flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn: 10 Prozent sicher, man kann es überall anwenden, 20 Prozent, es wird lebhaft, 50 Prozent, positiv waghalsig, für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß, 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“
Wäre denn die Pharma-Industrie – weltweit hoch konzentriert, bestens organisiert – im Rahmen einer markt- und das heißt gewinn-wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung
- regulierbar?
- Kontrollierbar?
- Nutzbar?
Die Antwort hängt von den Antworten auf drei Fragen ab:
- Gibt es in einem Gemeinwesen, z. B. in Deutschland, eine hinlänglich starke politische und soziale Koalition, die einen zweckmäßigen Rechtsrahmen – bestehend aus Ge- und Verboten sowie aus Anreizen – für die Arzneimittel-Industrie wollen und beschließen könnte, der in Richtung auf eine nachhaltige Bewegung von a nach b, also in Richtung auf eine Orientierung der Pharma-Industrie auf die Ziele der Sozialpharmazie wirkt? Hat der Staat eigentlich diesen Spielraum? (Auch gegenüber anderen Akteuren als Not leidenden Finanzinstituten?)
- Wäre ein solcher Rechtsrahmen in Deutschland zu implementieren? Also: Sind die Ausweichmöglichkeiten zu verstopfen? Ist zielgerichtetes Handeln herstellbar?
- Wäre die Pharma-Industrie hinterher immer noch ein im Rahmen der Markwirtschaft funktionsfähiger und innovationsfähiger Wirtschaftszweig?
Die Frage 3 kann man – mit Blick auf die internationale Varianz der Regulierung dieser Industrie und dieses Marktes – erst mal mit ‚ja’ beantworten. Probleme liegen eher bei Frage 1 und 2.
Aber die Pharma-Industrie ist ja auch nur ein Player neben Staat, Medizintechnologie- Herstellern, Ärzte-, Pflege- und noch vielen anderen Verbänden, und natürlich der GKV. Alle stehen heute erheblich stärker unter dem Druck der Kostendämpfung als in den 70ern, mit dem ihr immanenten Antrieb zur Ökonomisierung.
Ist Ökonomisierung gut oder schlecht für die Arzneimittelversorgung, für soziale Pharmazie? Streng genommen bedeutet Ökonomisierung die Orientierung der Handlungen und Unterlassungen im Versorgungssystem (Medizin, Pflege, Pharmazie etc.) an den Kriterien der Effektivität einschließlich der Kosteneffektivität. Diese Form der Ökonomisierung ist angesichts stets knapper Ressourcen eine Notwendigkeit und – angesichts der weitgehenden Finanzierung der Versorgung aus solidarisch kalkulierten Zwangsbeiträgen – auch eine ethische Forderung.
Unter Ökonomisierung wird aber meist der Druck in Richtung auf eine Orientierung gesundheitsbezogenen professionellen Handelns von Individuen und Institutionen an ihrer jeweiligen betriebswirtschaftlichen Nutzenoptimierung bzw. Gewinnmaximierung verstanden. Ökonomisierung in diesem Sinne wird insbesondere dann deutlich und empirisch nachweisbar, wenn die aus dieser Logik resultierenden Anreize und Handlungsimpulse stärker sind als professionelle Qualitätsstandards, zu denen auch die u. a. aus dem Grundgesetzauftrag resultierende Orientierung an equity gehört.
Eine Ökonomisierung des Versorgungshandelns in diesem Sinne verrät in der Tat die soziale Substanz der Gesundheitspolitik an eine nach Kaufkraft gestaffelte Verteilung von Leistungen, wenn und insoweit ihr nicht durch politische Strategien entgegen gewirkt wird, und ist deshalb ein berechtigter Gegenstand von Sorge und Angst. Nicht nur in der Arzneimittel-Versorgung stellt es ein ungelöstes Problem dar, wie man den Übergang von der ‚guten’ zur ‚bösen’ Ökonomisierung dauerhaft verhindern kann.
Die angeblichen und tatsächlichen Rationalisierungsreserven – d. h. Einsparungsmöglichkeiten ohne Verzicht auf Qualität, Vollständigkeit und equity in der Versorgung – versucht die Politik regelmäßig dadurch zu bewirken, dass sie Anreize so setzt, dass die Akteure bei ihren Versorgungsentscheidungen schon aus eigenem ökonomischen Interesse mögliche Kosteneinsparungen erkennen und umsetzen. Dazu werden die Akteure regelmäßig aus vorher bestehenden Vorschriften und Auflagen entlassen – es wird dereguliert. Die Erfahrung lehrt allerdings dreierlei: 1. Der richtige Kern dieses Ansatzes ist nicht Wettbewerb und Konkurrenz um jeden Preis, sondern die genaue Festlegung, wer mit welchen Instrumenten um was konkurrieren soll. 2. Deregulierung bedeutet nicht automatisch Vorschriften- oder Bürokratieabbau. Vielmehr zieht jede Deregulierung die Notwendigkeit neuer Regulierung nach sich. 3. Die von der (De-)Regulierung betroffenen Akteure sind auf der Suche nach Ausweichmöglichkeiten und Schlupflöchern meist findiger als die regulierenden Politiker – bei kaum einem der staatlich induzierten Reformversuche wurden die relevanten erwünschten und unerwünschten Wirkungen vorher richtig eingeschätzt.
Nach der Einführung der Konkurrenz zwischen den GKV-Kassen und der Behebung der schlimmsten Fehlanreize (in Richtung auf Risikoselektion) durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich setzt die Politik nun v. a. auf selektives (im Gegensatz zu gemeinsamem und einheitlichem) Kontrahieren: bei entsprechenden Anreizen kann es hierbei zur erwünschten Konkurrenz um Qualität kommen. Dieser Steuerungsversuch kommt nur schwer in Gang; die Beharrungskräfte sind sehr groß und auch nicht immer rational, siehe z. B. auch die Standespolitik der Apotheken.
Selektives Kontrahieren führt zu unterschiedlichen Versorgungsmodellen und soll das auch. Unterschiedliche Versorgungsmodelle implizieren unterschiedliche Rollen für den Apotheker (um mal wieder auf dasThema des Vortrags zurückzukommen).
In welchen Versorgungsmodellen und unter welchen Anreizen kann die öffentliche Apotheke mehr sein als Abgabestelle für Arzneimittel, könnte sie ein wenig mehr zur Agentur für Sozialpharmazie werden? Also sich in ihrer Funktion in Richtung auf eine gute Krankenhausapotheke – schon in der Vergangenheit oftmals die Leuchttürme rationaler Arzneimittel-Therapie – verschieben? Aktuelle Vorschläge des SVR (SVRGutachten 2009, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/137/1613770.pdf) erörtern, inwieweit Komponenten des in den USA unter gewinnwirtschaftlichen Aspekten zum Inbild von sozialer Selektion und Leistungsverweigerung gewordenen managed-care- Modell im eher gemeinwirtschaftlichen deutschen Kontext zu Qualitätsverbesserungen führen könnten. Dabei liegen im Extremfall Versorgung und Versicherung in einer Hand, zumindest aber die Versorgung soll umfassend über Kopfpauschalen gesteuert werden: Es gibt eine Pauschale für die Behandlung aller Gesundheitsprobleme einer/s jeden Versicherten. Das wirtschaftliche Risiko für die Morbidität wird auf die Versorger übertragen. Dadurch wird dort Ökonomisierungsdruck ausgelöst - auf alle Komponenten des Versorgungsapparates: Ärzte, Krankenhäuser und eben auch Apotheker.
Bei einer Einbindung von Apothekerinnen und Apothekern in ein solches Konzept der integrierten Versorgung erweitert sich der Auftrag der Apotheken. Ins Blickfeld gerät dann z. B. die gemeinsam mit den Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe (z. B. aus dem Bereich der Pflege) umzusetzende und arbeitsteilig organisierte pharmazeutische Betreuung (pharmaceutical care) chronisch Kranker ebenso wie um die Zusammenführung und Bewertung von Versorgungsdaten aus dem privat finanzierten Bereich (z. B. dem Arzneimittelkonsum im Rahmen der Selbstmedikation oder der privaten Verordnungen).
Apotheken werden somit im Rahmen eines solchen Behandlungsnetzes zur integrierten Versorgung zu Beratungszentren in der Arzneimitteltherapie, sowohl für die Ärzte und die Angehörigen anderer Gesundheitsberufe als auch insbesondere für die Patienten und Verbraucher. Und sie sind natürlich auch für die Auswahl und den Einkauf der Arzneimittel für alle Versicherten zuständig.
Ausländische Beispiele zeigen vielfältige Möglichkeiten für Kooperationen, in die Apotheken einbezogen sein können.
In Großbritannien existieren neben den üblichen Aufgaben der Apotheken weiterentwickelte und auch gesondert honorierte Dienstleistungen, wie z. B. der medicine use review (MUR), der im Bezug auf die verordneten Arzneimittel eine ausführliche Erläuterung der Einnahmemodalitäten für den Patienten anbietet. Der behandelnde Arzt erhält eine Rückmeldung über das Ergebnis der Beratung.
Im französischsprachigen Teil der Schweiz sind gemeinsame Qualitätszirkel von Ärzten und Apothekern so erfolgreich umgesetzt worden, dass diese Aktivitäten nun landesweit angeboten werden sollen. Diese Qualitätszirkel stehen unter der Leitung eines speziell hierfür im Rahmen einer Weiterbildung qualifizierten Apothekers, der mit den Ärzten an Hand von Verordnungsanalysen über die Verbesserung von Effizienz und Sicherheit in der jeweiligen Arzneimitteltherapie einzelner Ärzte diskutiert.
In Australien wird seit vielen Jahren das Konzept eines home medicine review (auch home medication review genannt) (HMR) umgesetzt, das auf der Kooperation von Ärzten und Apothekern basiert (S. I. Benrimoj / A. Roberts 2005). Vom Hausarzt werden dem Apotheker solche Patienten genannt, bei denen wegen der Menge oder der Komplexheit der verordneten Arzneimittel eine HMR sinnvoll und notwendig erscheint. Der Apotheker führt dann zuhause beim Patienten eine Analyse der im Gebrauch befindlichen Arzneimittel durch und prüft, ob eine Umstellung bei bestimmten Mitteln notwendig ist.
In keinem der hier vorgestellten Beispiele einer qualifizierten Kooperation von Apothekern mit den übrigen an der Patientenversorgung beteiligten Angehörigen ärztlicher oder nichtärztlicher Gesundheitsberufe spielen Organisationsform und Besitzverhältnisse der Apotheke eine erkennbare Rolle (eigentümergeführte Apotheke, Versandapotheke, Apotheke im Fremdbesitz, wie z. B. eine Kettenapotheke), weder behindernd noch fördernd. Es geht vielmehr um die Übernahme von professioneller Verantwortung durch die Apotheker und ihren Beitrag einer arzneimittelorientierten Kompetenz im Rahmen der Kooperation mit anderen Leistungsanbietern. Erkennbar ist allerdings in all diesen Projekten, dass die beteiligten Apotheker bestimmte qualifikationsfördernde Ausbildungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen durchlaufen haben und dass die Medikationsübersicht transparent und vollständig vorliegt.
Freilich haben managed-care-Modelle wie fast jede gesundheitspolitische Steuerung – und wie auch fast jedes Arzneimittel – neben den erwünschten auch unerwünschte Wirkungen: Es gibt in diesem Modell einen ökonomischen Anreiz zur Leistungsverweigerung und zur Ausgrenzung von Patienten, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen einen höheren Aufwand benötigen. Dem kann durch verbindliche Qualitätssicherung, angemessene Qualifikation der Versorgenden und durch eine Stärkung der Patientenrechte entgegen gewirkt werden.
Aber ob es wirklich möglich ist, einen dauerhaft wirkenden ökonomischen Anreiz durch diese Instrumente wirkungsvoll zu neutralisieren – und damit die Grenze zwischen ‚guter’ und ‚böser’ Ökonomisierung aufrecht zu erhalten –, das weiß keiner. Die bisherigen Erfahrungen sind gemischt. Klar aber ist, dass Qualitätssicherung dann nicht allein eine Angelegenheit derer sein darf, die von einer als gut bescheinigten Qualität einen ökonomischen Vorteil haben. Das hat das Versagen der Rating-Agenturen bei der Auslösung der jetzigen Weltfinanzkrise wieder einmal sehr deutlich gezeigt.
Es sind also öffentliche und unabhängige Beobachtung und auch Aufsicht gefragt. Und genau darin liegt der keimhafte Wert, der in Ansätzen wie dem § 20 im Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen zum Ausdruck kommt, eine der wenigen institutionalisierten Formen von sozialer Pharmazie in Deutschland.
§ 20 Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst in NRW:
- (1) Der Arzneimittelverkehr auf örtlicher Ebene wird von der unteren Gesundheitsbehörde überwacht
- (2) Die untere Gesundheitsbehörde (Amtsapotheker) soll ... anhand der ihr zur Verfügung stehenden Daten der Arzneimittelkonsum der Bevölkerung beobachten, dokumentieren, analysieren und bewerten. Sie kann dazu Erhebungen durchführen. Auf dieser Grundlage soll sie die Bevölkerung über einen verantwortlichen Arzneimittelkonsum aufklären, informieren und beraten sowie an der Bekämpfung des Drogen- und Arzneimittelmissbrauchs mitwirken.
Es ist also Bewegung im System – mit allen Chancen und Risiken. Für die Verfechter/- innen der sozialen Pharmazie, also auch den VDPP, wird es immer wieder darauf ankommen, die Gefahren aufzuzeigen und die Chancen zu nutzen. Das ist ein unabsehbar langer Prozess. Und ein glückliches Ende ist nicht garantiert. Um die Chancen dafür zu erhöhen, braucht es Vereinigungen wie den VDPP. Ihre Stimme ist als am Gemeinwohl orientierter Gegenpart zur Kakophonie der Interessenten unverzichtbar. Ich wünsche Ihnen deshalb für die nächsten Jahrzehnte viele Erfolge als wichtigem Akteur in der wachsenden Schar der Kämpfer für einen dem Stand der Möglichkeiten entsprechenden Umgang mit der Gesundheit der Bevölkerung.
Gewiss löst dies den Traum von der sozialen Pharmazie nicht ein. Vielleicht wird er – wie die meisten Träume – nie wahr. Aber der Traum weist uns die Richtung der Entwicklung und gibt uns Maßstäbe und Kriterien zur Bewertung und Beeinflussung der Gegenwart. Und außerdem: Wer keinen Mut zu träumen hat, hat keine Kraft zu kämpfen.
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock
Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock
Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, ist Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und lehrt Gesundheitspolitik u. a. an der Berlin School of Public Health in der Charité Berlin. Seine wichtigsten Themen sind sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen, Präventionspolitik, Betriebliche Gesundheitsförderung sowie Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Er betreibt seit den 70er Jahren Gesundheitsforschung und Politikberatung und ist u. a. Mitglied im Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR – G), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Mitglied des Nationalen Aids-Beirates (NAB), Vorsitzender der Landesvereinigung Gesundheit Berlin-Brandenburg e. V. und war von 2006 bis 2008 Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH).
Jüngste Buchpublikationen:
Rolf Rosenbrock / Claus Michel: Primäre Prävention, Bausteine für eine systematische Gesundheitssicherung, Berliner Schriftenreihe Gesundheitswissenschaften, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2007
Rolf Rosenbrock / Thomas Gerlinger: Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, Verlag Hans Huber: Bern usw. 2004, 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2006
E-Mail: rosenbrock@wzb.eu
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