TTIP – ein Pakt auf dem Weg ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Oktober 2014
Bis vor kurzem konnten nur Insider etwas mit den vier Buchstaben TTIP anfangen. Sie stehen als Abkürzung für das derzeit zwischen den USA und der EU verhandelte Freihandelsabkommen. Sein offizieller Name lautet: „Transatlantic Trade and Investment Partnership“.
Inzwischen hat sich die Situation geändert. Aufgrund der zunehmenden Anzahl meist beunruhigender Informationen aus den Geheimverhandlungen der TTIP-Beteiligten wächst das Misstrauen in der Öffentlichkeit und die aufgedeckten US-amerikanischen Spionageaktivitäten in den höchsten Kreisen der Bundespolitik verschärfen diese Tendenz. Medien berichten immer häufiger über Einzelheiten zu den Verhandlungen und tragen so ihrerseits zu einer erhöhten Aufmerksamkeit bei. Die Versprechungen der TTIP-Befürworter, das Freihandelsabkommen werde viele neue Arbeitsplätze und mehr Wohlstand für alle schaffen, nimmt kaum einer ernst.
Es sind vor allem zwei Themen, die immer wieder Anlass zur Berichterstattung geben. Da geht es um den im TTIP verhandelten Investitionsschutz für Wirtschaftsunternehmen und um deren Forderung, in den Ländern der EU und der USA weitgehend ohne staatliche Handelshemmnisse ihre profitablen Geschäfte betreiben zu können.
Handelshemmnisse abbauen
Als Handelshemmnisse gelten Maßnahmen des Verbraucher-, Daten-, Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutzes, aber auch Sozial- und Qualitätsstandards, die im Interesse der BürgerInnen eines Landes liegen. Die Aufzählung dieser sog. nichttarifären Handelshemmnisse macht sofort deutlich, dass sie bei den im Wettbewerb stehenden Unternehmen prinzipiell alle im Verdacht stehen, den freien Waren- und Dienstleistungswettbewerb zu beeinträchtigen und darum soweit wie möglich auszuschalten oder zumindest zu nivellieren sind. Konkretes Beispiel: Jede Maßnahme im Interesse der NutzerInnen für mehr Lebensmittelsicherheit zwingt den Unternehmer zur Beachtung von Auflagen mit der Folge möglicher Absatzbeeinträchtigungen und Benachteiligungen gegenüber anderen Anbietern. Das ist aus Unternehmersicht nicht wettbewerbsfreundlich. Darum sollen solche Handelshemmnisse im TTIP möglichst minimiert oder ganz beseitigt werden. Damit das gelingt, soll den Unternehmen weit entgegengekommen werden. So soll zukünftig ein Regulierungsrat unter Einbindung wichtiger Unternehmen aus den USA und der EU bereits im Vorfeld geplanter Gesetzesvorhaben aktiv werden und prüfen, ob diese Pläne unternehmerischen Interessen entgegen stehen könnten. Wenn ja, setzt dann in Zukunft die sofortige Einflussnahme des Regulierungsrats auf den Gesetzgebungsprozess ein, bevor dieser die parlamentarischen Gremien – insbesondere das EU-Parlament – erreicht hat .
Investitionsschutz zugunsten der Industrielobby gestalten
Neben dem Regulierungsrat soll ein Investitionsschutzabkommen dafür sorgen, dass Unternehmen Staaten auf Schadensersatz verklagen können, wenn sie mögliche Gewinneinbußen durch wettbewerbsbeschränkende staatliche Auflagen befürchten. Die Klage soll unter Umgehung geltender Rechtsmittel und Rechtsinstanzen vor privaten Schiedsgerichten erfolgen. Auf der Anklagebank sitzt dann der jeweilige Staat, der seinerseits dieses Klagerecht nicht erhält und nach einem Urteilsspruch zu seinen Lasten keine Revision beantragen kann. Schadensforderungen in Milliardenhöhe zahlen dann wir BürgerInnen. Der schwedische Energiegigant klagt derzeit gegen die Bundesrepublik wegen des Atomausstiegs auf 3,7 Mrd. Euro Schadensersatz – auf der Basis eines Freihandelsabkommens.
Alle Lebensbereiche vom Energiesektor zum Datenschutz, von der Bildung über die Kultur zum Gesundheitswesen, von der Landwirtschaft bis zu den kommunalen Dienstleistungen, vom Arbeitsschutz bis zu den Verbraucherrechten werden von den zu erwartenden Auswirkungen des TTIP betroffen sein. Darum müsste es eigentlich selbstverständlich sein, die Öffentlichkeit von Anbeginn an umfassend über den Stand der Verhandlungen zu informieren. Die Wirklichkeit dagegen ist von Anstrengungen um Geheimhaltung geprägt. Nach außen hin hat sich vor Beginn der Verhandlungen die EU-Kommission zwar stark gemacht für eine „Konsultation mit der Zivilgesellschaft als fundamentalen Teil der Politikentwicklung“. Doch offenbar wird diese Absicht sehr selektiv umgesetzt. Auf Anfrage einer in Brüssel aktiven Antilobbygruppe – Corporate Europe Observatory (CEO) – im letzten Jahr wurde bekannt, dass zwischen Januar 2012 und April 2013 – also bereits vor dem offiziellen Verhandlungsbeginn im Juni 2013 – 127 Treffen hinter verschlossenen Türen stattfanden. 90 % davon entfielen auf Gesprächspartner der Banken- und Kommunikationsbranche bis hin zur Waffen-, Auto-, Ernährungs-, Medizingeräte- und Pharmaindustrie – nicht gerade die klassischen Repräsentanten der Zivilgesellschaft wie versprochen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sitzen am Katzentisch und dürfen sich über die angebotenen Informationsveranstaltungen der EU-Kommission freuen.
Das Angebot an TTIP-Literatur und Veröffentlichungen wächst. Sich zu informieren sollte für jeden Menschen Bürgerpflicht sein. Im Augenblick wird eine große Unterschriftenaktion von Campact vorbereitet, die zu einer Europäischen Bürgerinitiative genutzt werden soll.Hier ist nicht der Ort, näher auf wichtige Details einzugehen. Ich verweise auf die folgende Quelle für alle Interessierten:
www.ttip-unfairhandelbar.de
Erstaunlich erscheint bei der Fülle der vorliegenden Informationen, dass der Gesundheits- und speziell der Arzneimittelbereich eine eher beiläufige Rolle spielen. Das ist umso erstaunlicher, als der jetzige oberste US-Verhandlungsbeauftragte Michael Froman ein Vertreter der ganz großen Pharma-Lobby („Big Pharma“) der USA ist. Zufall? Sicherlich nicht, denn die Chemie- und Pharmalobby ist in Brüssel stark vertreten und gehört auch zu dem Kreis der 600 Industriegiganten, die bevorzugt in die Verhandlungsverläufe einbezogen werden.
In einem Gastbeitrag zum TTIP in der Pharm.Ind. 76, Nr. 4 von 2014 wird für den Gesundheitsbereich wegen der geringen Beachtung in den Verhandlungen ein Erklärungsversuch unternommen. Gerade im Arzneimittelsektor gäbe es bereits seit 1990 abgestimmte Regularien zur Harmonisierung von Verfahren und Regelungen insbesondere zur Herstellung und Zulassung, die als beispielhaft für fortschreitende Deregulierungsmaßnahmen gelten könnten. In einem von der EU-Kommission Mitte 2013 verabschiedeten Positionspapier würde zum Thema „Nichttarifäre Handelshemmnisse“ speziell der Arzneimittelbereich als bereits gut funktionierende Kooperation zwischen den USA und der EU herausgestellt. Im übrigen erfahren wir in diesem Artikel, dass bei der EU-Verhandlungskommission ein „Pharmazeutischer Ausschuss“ installiert wurde, der bei auftretenden Fragestellungen, die den Arzneimittelbereich betreffen, seine Beurteilung abgibt und Vorschläge unterbreitet. Dieser Ausschuss – so die Pharm.Ind. weiter – steht „Gewehr bei Fuß“, um jederzeit im Verlauf der TTIP-Verhandlungen Fragestellungen zu übernehmen.
Der oben zitierte Artikel in der Ausgabe der Pharm Ind. gibt leider keinerlei Informationen und Auskünfte zu vielen wesentlichen Fragen wie den folgenden:
Welche Effekte könnte das TTIP auf die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung haben? Werden sie als Träger sozialer Aufgaben von den Verhandlungen ausgenommen? Bleiben im TTIP die Dienstleistungen aller Bereiche des deutschen Sozial- und Gesundheitssektors von Liberalisierungsbestrebungen verschont? Müssen wir eine Ausweitung der Arzneimittelwerbung auf verschreibungspflichtige Arzneimittel wie in den USA befürchten? Bekommen wir etwa eine Verlängerung der Patentzeiten wie in den USA mit der Folge steigender Ausgaben in der GKV wegen der späteren Zulassung von Generika? Was wird aus den Rabattverträgen, der Preisverordnung, der frühen Nutzenbewertung? Müssen wir zukünftig auf die Anwendung des Vorsorgeprinzips verzichten, wie die Verbraucherschutzverbände befürchten, weil dieses Prinzip in den USA nichts gilt? Was wird dann aus dem geplanten Präventionsgesetz? Was wird aus dem gerade verabschiedeten Beschluss des EU-Parlamentes, nach der Zulassung eines Arzneimittels alle dazu eingereichten Daten über die Ergebnisse der klinischen Prüfungen durch die EMA zu veröffentlichen? Greift hier vielleicht der Datenschutz von Geschäftsgeheimnissen, der in den USA einen hohen Stellenwert hat, und darum den EU-Parlamentsbeschluss wieder aushebeln könnte?
Der Fragenkatalog ließe sich weiter fortsetzen, denn im Gesundheits- und Arzneimittelwesen gibt es viele Auflagen und Regeln im Interesse des Verbraucherschutzes und der Versorgungssicherheit der BürgerInnen, die jetzt zur Disposition gestellt werden könnten. Nach dem Inkrafttreten des TTIP werden diese Bestimmungen auf Industrieseite mit Sicherheit verschärft als Handelshemmnisse ins Visier genommen, auf mögliche Wettbewerb schädigende Auswirkungen untersucht und damit der Gefahr einer drohenden Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik vor privaten Schiedsgerichten ausgesetzt. Das alles klingt nicht besonders beruhigend. Skepsis und Vorsicht scheinen angeraten!
Hat die die sogenannte oberste Berufsvertretung der Deutschen Apotheker irgendwo dazu grundsätzlich Stellung bezogen – nachvollziehbar und zugänglich für die Berufsöffentlichkeit? Ist sie ihrer Aufgabe nachgekommen, bereits im Vorfeld von nachhaltig wirksamen Entscheidungen, die nicht mehr aufkündbar sein werden und EU- wie Bundesrechte als nachrangig aushebeln können, alles zu tun, um aufzuklären, nachzufragen, zu recherchieren und die berufspolitischen Gremien in die Meinungsbildung einzubeziehen? Wenn ja, wo kann die Berufsöffentlichkeit dazu etwas erfahren?
Was findet sich darüber vor allem in ihrem allen zugänglichen Standesorgan, der Pharmazeutischen Zeitung (PZ)? Ich begab mich hier auf die Suche in der Hoffnung, dass die ab 2014 anwachsende allgemeine Berichterstattung über die TTIP-Verhandlungen sich auch in den PZ-Ausgaben des Jahres 2014 bezüglich berufsspezifischer Fragestellungen widerspiegeln würde.
Bisher bekannt war mir nur eine Äußerung der ABDA zum Thema TTIP. Der ABDA sei versichert worden, dass das Thema Fremd- und Mehrbesitz von den Vertragsverhandlungen nicht berührt werde. Gab sie sich mit diesem Wissensstand zufrieden? Beim Studium der PZ blieb meine Suche nach diesem Zitat zwar vergeblich, aber ich achtete auf eventuell andere Äußerungen zum Thema TTIP beim Durchforsten aller bisher in 2014 erschienenen 26 Pharmazeutischen Zeitungen. Dabei stieß ich auf einen einzigen Bericht über eine aktuelle Stunde im Bundestag, wo die LINKE die Staatssekretärin Zypries aus dem Wirtschaftsministerium um Beantwortung einiger Fragen zum aktuellen Stand der TTIP-Verhandlungen bat (PZ Nr.12/14). Da ging es im Kontext zum aktuellen Verhandlungsstand zu TTIP um Fragen der Arzneimittelzulassung, des Patentrechts, der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel und drohender Privatisierungen im Gesundheitswesen. Also reichlich Stoff! Abgesehen von den nichtssagenden Antworten der Staatssekretärin, beschränkt sich der Artikel der PZ auf eine reine Berichterstattung ohne sie für eine Darstellung von ABDA- oder Kammerpositionen zu nutzen. Gibt es womöglich keine? Dieser Beitrag war die einzige Fundstelle zum TTIP und das zu einem Zeitpunkt, wo die überregionale Presse inzwischen regelmäßig und z. T. sehr detailliert berichtet.
Ist das Verantwortungslosigkeit, Fahrlässigkeit, eine totale Fehleinschätzung laufender berufsrelevanter und vielleicht existentiell bedeutsamer Probleme, zu denen dringend eine offizielle Positionierung erforderlich wäre? Oder etwa ein bewusstes verabredetes Schweigen, weil man sich im Verhandlungsfahrwasser der Pharmalobby auf der sicheren Seite wähnt und eine öffentliche Debatte nicht provozieren möchte? Viele Fragen an die Berufsvertretung, aber wo finden sich Antworten oder Erklärungen?
Eines habe ich beim stundenlangen Studium der 26 Pharmazeutischen Zeitungen erfahren: ARMIN und das Leitbild sind die zentralen Themen der Apothekerschaft für das Jahr 2014! So verkündete es der PZ-Chefredakteur in seinem Editorial zum Jahresbeginn 2014. Hier ist für das Freihandelsabkommen kein Platz. Es gibt standespolitisch offenbar andere Prioritäten. Noch Fragen?
Ingeborg Simon
Erschienen im VdPP Rundbrief Nr. 90
TERMINE
07. Oktober, online
18. November, online
VdPP-Vorstandssitzung
04. November, online
02. Dezember, online