Wettbewerb im Gesundheitswesen

Eine Einstimmung auf das Herbstseminar 2007

von Florian Schulze

 

Nicht erst seit dem „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung”, also der Gesundheitsreform 2007, kann die Frage nach Sinn und Unsinn von Konkurrenz bei der Versorgung kranker und alter Menschen als Gretchenfrage bei der Gestaltung des Gesundheitswesens gelten.

 

Die Grenze zwischen den Befürwortern und Gegnern zieht sich quer durch die politischen Lager und gesellschaftlichen Gruppierungen. Was für die Einen nach Besitzstandswahrung der Leistungserbringer klingt, bedeutet für die Anderen Unabhängigkeit, um im Sinne der Patienten entscheiden zu können. Umgekehrt ist der Ruf nach mehr Wettbewerb für die Einen das Mittel für Effizienzsteigerung und damit auch für die dauerhafte Bezahlbarkeit des gegenwärtigen Systems, für die Anderen in erster Linie der Weg hin zu einer Kommerzialisierung und Entmenschlichung des größten Marktes Deutschlands.

 

Beide Seiten werfen sich gegenseitig doppelbödige Argumentation und unethisches Handeln vor, und auch den Betroffenen, Patienten wie Leistungserbringern, fällt es vielfach schwer, den Überblick über Argumente und Konzepte zu behalten.

 

Welche Hoffnungen verbinden sich mit der (weiteren) Verschärfung des Wettbewerbs?

 

Grundsätzlich sind sich die meisten Akteure einig, dass Wettbewerb wichtig ist, um die Flexibilität innerhalb eines so riesigen Systems wie dem des Gesundheitswesens gewährleisten zu können. Wahlmöglichkeiten für Patienten und Kunden, also Wettbewerb um diese, sowie weit reichende Rechte gegenüber Ärzten, Therapeuten, Apothekern etc. und damit Sanktionsdruck sind essentiell, um die Patienten im Mittelpunkt des Geschehens ansiedeln zu können.

 

Monopolistische Strukturen werden im Allgemeinen als nicht geeignet angesehen, um Effizienz und Qualität zu optimieren; bei Staatsmonopolen, wie einer möglichen Einheitskasse, ist zumindest das linke Lager geteilter Meinung, allerdings scheinen sich auch hier viele von der Idee abzuwenden.

 

Differenzen treten ebenso zu Tage, wenn es um die Parameter des Wettbewerbs geht. Soll es ein Wettbewerb um Qualität oder um kostengünstigere Leistungen sein? Geht es um bestmögliche Versorgung der Bevölkerung oder doch in erster Linie darum, die Lohnnebenkosten, also Personalkosten für die Arbeitgeber, zu senken? Unbestritten stellen finanzielle Schwierigkeiten eines schlecht wirtschaftenden Krankenhauses, eines nachlässig diagnostizierenden Arztes oder einer ausschließlich eigennützig beratenden Apotheke sinnvolle Korrektive dar, doch geht es darum wirklich?

 

Es wird kaum bestritten, dass die letzte Gesundheitsreform vor allem zur Senkung der GKV-Kosten auf den Weg gebracht wurde, auch wenn die pausenlos vom BMG hervorgehobenen versorgungsorientierten Neuerungen wie die Krankenversicherungspflicht und das damit einhergehende Rückkehrrecht in die GKV, das neue Impfrecht oder das Rehabilitationsrecht nicht vergessen werden dürfen.

 

Da mit dem Thema „Wettbewerb im Gesundheitswesen” wahrscheinlich Bücher gefüllt werden können, möchte ich mich im Folgenden vor allem mit der Frage auseinander setzen, ob die Sparorgien, die Leistungskürzungen, der geforderte Preiswettbewerb unter den Leistungsträgern, der meiner Meinung nach immer auch negative Auswirkungen auf die Versorgungsqualität haben muss, im Gesundheitssystem wirklich notwendig sind.

 

Brauchen die GKV wirklich zu viel Geld?

 

Die Befürworter einer Wettbewerbsstärkung stützen ihre Argumentation häufig auf die Notwendigkeit, veränderten Rahmenbedingungen begegnen zu müssen. So z. B. Ulla Schmidt auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2006: „Die Erweiterung der Europäischen Union und die Globalisierung in Richtung Asien und Amerika haben den Wettbewerbsdruck auf die deutsche Wirtschaft und auf die deutschen Sozialsysteme einschließlich der Krankenversicherung dramatisch erhöht. Die ökonomische Stagnation mit niedrigen Wachstumsraten vor allem bei Löhnen und Gehältern führen das Gesundheitssystem in eine strukturelle Finanzkrise, weil seine Finanzierung fast ausschließlich am Faktor Arbeit hängt."

 

Ebenso häufig werden der sog. demographische Wandel und Mehrkosten aufgrund des medizinischen Fortschritts bemüht, tiefe Einschnitte in das System der GKV mit exorbitant steigenden Kosten zu begründen.

 

Besieht man sich die Ausgabensituation der GKV im Kontext der gesamtwirtschaftlichen Lage, kommt man allerdings zu einer anderen Bewertung.

Unbestreitbar sind die Kosten der GKV fast kontinuierlich gestiegen. Die nachfolgende Tabelle zeigt allerdings, dass die Bundesrepublik (West) von 1980 bis 1998 einen konstanten Anteil von ca. 6 % ihres BIP für die Versorgung der GKV-Versicherten verwendet. Die Schwankungen werden weniger von den GKV-Ausgaben als vom zyklischen Wachstum des BIP bestimmt. Bei hohen Wachstumsraten des BIP geht der GKV-Anteil zurück, bei niedrigen ist es umgekehrt.

Der Einzelwert von 1998 (5,86 %) liegt um 0,02 Prozentpunkte über dem Wert von 1980. Das sind die zwei Zehntausendstel, um die es bei allen Sparplänen geht und die gern mit „Kostenexplosion” beschrieben werden.

 

Anteil der GKV-Ausgaben am Brutto-Inlandsprodukt 1980 – 1998 (alte Bundesländer[1])

 

Jahr GKV BIP BIP-Wachstum [%][2] GKV-BIP [%]
1980 85.956 1.472.040   5,84
1981 92.203 1.534.970 4,3 6,01
1982 92.676 1.588.090 3,5 5,84
1983 95.898 1.668.540 5,1 5,75
1984 103.526 1.750.890 4,9 5,89
1985 108.704 1.823.180 4,1 5,96
1986 114.061 1.925.290 5,6 5,92
1987 118.930 1.990.480 3,4 5,97
1988 128.059 2.095.980 5,3 6,11
1989 123.241 2.224.440 6,1 5,54
1990 134.238 2.426.000 9,1 5,53
1991 151.634 2.647.600 9,1 5,73
1992 167.850 2.813.000 6,2 5,97
1993 166.092 2.840.500 1,0 5,84
1994 178.463 2.962.100 4,3 6,02
1995 190.289 3.049.800 3,0 6,18
1996 196.392 3.112.300 2,0 6,29
1997 191.683 3.202.600 2,9 5,98
1998[3] 195.066 3.329.000 3,9 5,86

Wie kommt es, dass sich die GKV in einer Finanzierungskrise befindet, wenn doch prozentual vom erwirtschafteten Geld nicht mehr aufgewendet werden muss als früher?

 

Die Antwort ist meines Erachtens in der veränderten Einnahmestruktur der GKV zu suchen, der keine der vielen gesetzlichen Neuerungen zur Modernisierung des Gesundheitswesens Rechnung getragen hat. Die ursprünglich paritätische Beteiligung an den Kosten der GKV verteilt sich durch die Einführung und Erhöhung von Zuzahlungen inzwischen 60 zu 40 zu Lasten der Arbeitnehmer.

 

Da nun aber die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen (und damit einhergehend auch die Quote der GKV-Einnahmen am BIP), von 72 Prozent im Jahre 2001 auf 67 Prozent im Jahre 2005 gesunken ist und damit der Anstieg des Lohnniveaus (brutto) weit hinter dem Anstieg des Volkseinkommens (0,7 % versus 4,38 % 2004 - 2006) hinterherhinkt, kann der Einbruch auf der Einnahmenseite der GKV nicht verwundern. Zum Vergleich: In den USA sind die Reallöhne (also Nettolöhne abzüglich Inflation, Kaufkraftindikator) in den letzten Jahren um 20 % gestiegen, in Schweden und Großbritannien gar um 25 %, Deutschland ist der einzige Industriestaat, in dem sie gefallen sind.

 

Wenn einbezogen wird, dass gerade hohe Löhne und Gehälter mittels der PKV vielfach aus dem Solidarprinzip ausgeklinkt werden, wird die einseitige Belastungsverteilung noch deutlicher: Gutverdienern wird die Minimierung ihres Anteiles an der Finanzierung der Solidargemeinschaft leicht gemacht. Oder anders herum: je kleiner der Geldbeutel, desto größer der prozentuale Anteil an der GKV. Oder: Artikel 14 des Grundgesetzes („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.”) findet hier keine Anwendung.

 

Die aktuelle Wettbewerbsdebatte kommt mir vor diesem Hintergrund fast zynisch vor.

 

Auf der einen Seite

  • Erhöhung / Einführung von Zuzahlungen, die als lohnunabhängige und zudem von Arbeitnehmern allein zu entrichtende Abgaben grundsätzlich unsozial sind,
  • Leistungssausschlüsse von medizinisch notwendigen Leistungen, wie z. B. Thrombozytenaggregationshemmer zur Infarktprophylaxe,
  • die Beitragssatzerhöhungen der GKV und Sparauflagen, die z. B. Krankenhäuser dazu zwingen, Ärzte und Krankenschwestern zu Bedingungen arbeiten zu lassen, die in einem VW-Werk undenkbar wären,
  • sinkende (!) Realeinkommen der abhängig Beschäftigen in Deutschland und damit prozentual sinkende GKV-Einnahmen,

 

Auf der anderen Seite

 

  • immense, allerdings nicht sozialversicherungspflichtige Kapitaleinkünfte, in großen Teilen hohe Gewinne bei mittleren und großen Unternehmen (ebenfalls nicht sozialversicherungspflichtig)

 

  • eine Koalition, die – ebenso wie die schwarz-gelbe und die rot-grüne vor ihr – auch in der neunten Gesundheitsreform seit 1992 nicht versucht hat, die Einnahmesituation der GKV auf eine Basis zu stellen, die die tatsächliche Vermögens- und Wertschöpfungssituation in Deutschland widerspiegelt.

 

Nun, so weit ist alles klar und leicht zu durchschauen. Oder doch nicht? Ist das doch zu einfach? Wir, aus der Berliner Regionalgruppe, möchten weiter einsteigen in die Debatte, alle Seiten zu Wort kommen lassen und natürlich auch andere Aspekte der Wettbewerbsdebatte, etwa die Auswirkungen einer Zulassung von Mehr- und Fremdbesitz von Apotheken beleuchten.

 

Dazu haben wir einige kenntnisreiche Referenten und Mitdiskutanten eingeladen:

 

  • Prof. Gerd Glaeske, Apotheker, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung am Institut für Sozialpolitik an der Universität Bremen, Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, „Rotes Tuch” und VDPP-Mitglied,
  • Prof. Jens-Uwe Niehoff, ehem. Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Charité und nach Gastprofessuren in den USA beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e.V. für strategische Grundsatzfragen zuständig. Seit 2005 arbeitet er als Hochschullehrer und in freier Praxis als Analyst und Berater und ist Herausgeber mehrerer sozialmedizinischer und Public-Health-Standardwerke,
  • Dr. Stefan Etgeton, Referent für Gesundheit bei der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V., und
  • Lutz Tisch, Geschäftsführer Recht der ABDA ist angefragt.

 

Also haltet euch den 10. November für das Herbstseminar in Berlin frei.


 

Abgedruckt im Rundbrief 67

http://www.vdpp.de

TERMINE

 

07. Oktober, online

Pharmacists for Future (Ph4F) 

 

18. November, online

VdPP-Vorstandssitzung 

 

04. November, online

Pharmacists for Future (Ph4F) 

 

02. Dezember, online

Pharmacists for Future (Ph4F)